01 - Tage der Sehnsucht
Viele Leute hatten ihnen einen Besuch abgestattet, darunter
eine gewisse Lady Disher, die äußerst liebenswürdig zu Fiona gewesen war und
sie für den nächsten Tag zum Tee eingeladen hatte. »Nicht Sie, Mr. Sinclair«,
hatte Lady Disher neckend gesagt. »Nur Damen.«
Und Mr. Sinclair,
dem es schmeichelte, dass Fionas neuerworbene Freundin offenbar eine Dame von
Rang war, drängte sein Mündel eifrig, die Einladung anzunehmen.
Fünftes Kapitel
Nach einem Übungskampf in Jacksons Boxklub
zog der Earl of Harrington sein Hemd über. Der. Freund des Earl, Mr. Toby
Masters, blickte wehmütig auf Harringtons gewaltigen Brustkorb und seine
schlanke Taille und danach voll Reue auf seinen eigenen wohlbeleibten Körper.
Mr. Masters liebte Essen und Trinken, am liebsten im Übermaß. Er spürte die
Hitze im Raum und das Jucken seiner Haut unter dem straff sitzenden Korsett mit
unangenehmer Deutlichkeit. »Hast du schon von der neuesten Schönheit gehört?«
fragte er.
Ich höre von allen
möglichen Schönheiten«, erwiderte der Earl, während er sich mit seinen breiten
Schultern in die Jacke zwängte. »Und wer ist die neueste Schönheit?«
»Eine Miß Fiona Sinclair.«
Der Earl blieb wie
angewurzelt stehen. Seine Jacke hing ihm noch halb über die Schulter. »Ich bin
einer Miß Fiona Sinclair begegnet«, sagte er langsam.
»Glückspilz«,
meinte Mr. Masters. »Hast du ihr schon einen Besuch gemacht?«
»Nein, ich doch
nicht«, erwiderte der Earl, zog die Jacke vollends an und strich die Aufschläge
glatt. »Ich bin ihr begegnet, als sie mit ihrem Vater in den Süden reiste. Die
Postkutsche, mit der sie fuhren, war durch einen Sturm an der Weiterreise gehindert.
Derselbe Sturm veranlasste mich, Zuflucht bei Pardon zu suchen, der auch die
Passagiere der Postkutsche aufnahm. Nur ein Sturm konnte mich zwingen, die
Gastfreundschaft dieser Kreatur in Anspruch zu nehmen. Er war von Miß Fionas
Schönheit stark beeindruckt und lud ihren Vater ein, sich bei den Gästen an
seiner Tafel niederzulassen.«
»Bei Pardons
bekannt guter Gesellschaft«, meinte Mr. Masters sarkastisch.
»Er hat letztes
Jahr ein Dienstmädchen vergewaltigt. Ein großer Skandal, den man im Norden
vergeblich zu vertuschen suchte. Ich war gerade bei den Chalforts in Dumfries,
als ich davon hörte.«
»Nicht möglich«,
rief Mr. Masters aus. »Er ist doch viel zu schwach, um für eine Frau eine
Gefahr darzustellen.«
»Er entging einer
Anklage nur dadurch, dass sich das Mädchen erhängte und dem Vater eine
beträchtliche Summe ausbezahlt wurde, damit er den Mund hielt. Aber zurück zu
Fiona! Sie saß beim Abendessen neben mir. Ein merkwürdiges junges Mädchen, ziemlich
schäbig gekleidet.«
»Das kann nicht
dieselbe sein«, erwiderte Mr. Masters. »Die ich meine, ist von erstaunlicher
Schönheit und kleidet sich wie eine Modepuppe. Ihr Vater ist ein Geizhals, nahe
am Herzinfarkt und beabsichtigt, seine Geldsäcke der Tochter zu hinterlassen.
Alle umschwärmen sie wie Wespen den Honigtopf.«
»Ich werde nicht
dazugehören«, sagte der Earl.
»Verstehe ich
nicht«, erwiderte Mr. Masters. »Wenn ich deine Figur, dein Vermögen und
Aussehen hätte, würde ich ihr schon auf der Türschwelle einen Heiratsantrag
machen. Magst du die Frauen nicht?«
»Toby, du weißt
sehr gut, dass ich die Gunst mehrerer Damen genossen habe. Ich bin kein Mönch.
Aber ich möchte keine von ihnen heiraten, solange ich mich nicht entschließen
kann, einen Erben in die Welt zu setzen. Nach einer gewissen Zeit werden alle
langweilig, klammern sich aber an einen wie die Kletten. Eine große
Leidenschaft dauert höchstens anderthalb Jahre, und was hat man danach?
Leidenschaft ist ein Betrug. Ich ziehe es vor, Frauen zu beherrschen, statt von
ihnen beherrscht zu werden.«
»Aber Miß Fiona ist
eine ungewöhnliche Schönheit. Ich habe sie im Park gesehen.«
»Schönheit vergeht.
Auch schöne Frauen sind ermüdend. Sie sind daran gewöhnt, dass ihr Aussehen
ihnen alle Aufmerksamkeit sichert, und so lernen sie es nicht, wie man anderen
eine Freude macht oder sie unterhält. Mein lieber Toby, mich könnte nichts dazu
bringen, Miß Fiona einen Besuch abzustatten. Nichts.«
»Weißt du bestimmt, dass dieses Kleid kein
Vermögen gekostet hat?« fragte Mr. Sinclair, als Fiona ihre Handschuhe anzog,
um sich auf den Weg zu Lady Disher zu machen.
»Ja. denn ich habe
es selber angefertigt«, erwiderte Fiona gleichmütig.
Mr. Sinclair
betrachtete sie nachdenklich. Selbst sein
Weitere Kostenlose Bücher
Die vierte Zeugin Online Lesen
von
Tanja u.a. Kinkel
,
Oliver Pötzsch
,
Martina André
,
Peter Prange
,
Titus Müller
,
Heike Koschyk
,
Lena Falkenhagen
,
Alf Leue
,
Caren Benedikt
,
Ulf Schiewe
,
Marlene Klaus
,
Katrin Burseg