01 - Tage der Sehnsucht
Ein
unschlüssiges Hüsteln vom Eingang her veranlasste ihn, sich umzudrehen.
Rainbird stand dort und hinter ihm Jenny, die Zofe.
»Was gibt's?«
fragte Mr. Sinclair mit Nachdruck.
»In Miß Sinclairs
Schlafzimmer fehlen ein paar goldene Seidenvorhänge«, sagte Rainbird. »Mir
liegt natürlich daran, dass man Jenny nicht die Schuld gibt.«
Mr. Sinclair wandte
sich wieder dem Fenster zu. Fiona und Joseph waren bereits außer Sichtweite. Er
drängte sich an dem erschreckten Rainbird vorbei und eilte auf die Straße
hinunter. Fiona bog gerade in die Curzon Street ein. Joseph folgte ihr im
Abstand von zwei Schritten.
»Hallo!« rief Mr.
Sinclair. »Komm zurück!«
Fiona winkte. Ihr
Damenhandtäschchen aus altgoldener Seide funkelte im Sonnenlicht. Dann bog sie
um die Ecke und war verschwunden.
Mr. Sinclair
stapfte zum Haus zurück. Er schwitzte am ganzen Körper. »Ich glaube«, sagte er
zu Rainbird, wobei er dessen hellen, intelligenten Blick vermied, »es wird sich
herausstellen, dass Fiona sie zum Ausbessern gegeben hat.«
»Aber sie waren
doch nicht kaputt, Sir«, sagte Jenny.
»Ruhe!« brüllte Mr.
Sinclair. »Wenn ich sage, dass sie zum Ausbessern weggegeben wurden, dann ist
das auch so.« ,
Von seiner Wut
erschreckt, brach Jenny in Tränen aus, während Rainbird den Mieter von Clarges
Street 67 vorwurfsvoll ansah.
»Also stehen Sie
nicht länger herum«, fauchte Mr. Sinclair. »Zeit ist Geld. Mein Geld.«
Rainbird führte die
immer noch weinende Jenny hinaus, während sich Mr. Sinclair hinsetzte und
fluchte. Er wußte jetzt, wo Fiona die Seide für ihre Rosen und das
Handtäschchen entdeckt hatte. Es war ausgesprochen unehrlich von dem Mädchen,
und der Ersatz der Vorhänge würde ihn schweres Geld kosten. Zum Teufel mit ihr!
War sie wirklich
etwas dumm, oder hatte er es vielleicht mit einer Gaunerin zu tun? Auf jeden
Fall war er jetzt überzeugt, dass er sich den ganzen Plan vom Geizkragen von
Mayfair allein ausgedacht hatte. Dass Fiona auch nur einen Funken Intelligenz
besitze, konnte er sich einfach nicht vorstellen.
Mit jeder Post
waren Einladungen gekommen. Vom Ende der folgenden Woche an bestand daher für
ihn und Fiona die Möglichkeit, auf Kosten anderer Leute zu essen. Doch er
dachte auch an die missliche Lage der Dienerschaft und fühlte sich dadurch
niedergedrückt. Palmer hätte seiner Meinung nach dem Personal mehr bezahlen
müssen und sich nicht auf die Großzügigkeit seiner Mieter verlassen dürfen,
aber das war nun einmal die traurige Gepflogenheit in Britannien. Von den
Kellnern in Wirtshäusern wurde erwartet, dass sie ihre Löhne aus Trinkgeldern
bestritten. Auch konnte man nie sein Zimmer am Ende eines Aufenthaltes
verlassen, ohne sich einer ganzen Schlange von Dienern gegenüber zu sehen, die
die Hände aufhielten. Mr. Sinclair war gewöhnt, Geld großzügig auszugeben.
jetzt musste er jeden Pfennig umdrehen, wie der Geizkragen, für den er gehalten
wurde. Er wollte ausgehen, aber der Gedanke einzukehren, wenn man keine nette
Gesellschaft beim Essen und Trinken hatte, besaß wenig Verlockendes. Natürlich
würden auch heute Besucher kommen, die hofften, einen Blick auf Fiona werfen zu
können. Doch die Vorstellung, dabeisitzen zu müssen, wenn sie beim Genuss
seines billigen wässrigen Weines zusammenzuckten und unverhohlene Verachtung
aus ihren Augen sprach, schien ihm unerträglich.
Seine Gedanken
wanderten wieder zu Fiona, und es kam ihm von neuem in den Sinn, dass er das
Mädchen gar nicht richtig kannte. Sicherlich hatte Jamie für ihre Erziehung nur
deshalb Geld ausgegeben, um sie vorteilhaft an einen seiner Freunde zu
verheiraten. Vielleicht wollte er sie auch für sich selbst.
Mr. Sinclair
entschied, dass es Zeit war, sich mit Fiona zusammenzusetzen, um
herauszufinden, was wirklich hinter dieser Alabasterstirn vorging.
Unten in der Küche machte Dave, der
Küchenjunge, vor Lizzie Verbeugungen und Kratzfüße. »Einen schönen Tag wünsche
ich, gnädige Frau«, sagte er. »Sie sind eine große Dame, dass ich kaum den Saum
Ihres Kleides zu berühren wage.«
»Hör auf damit!«
befahl Rainbird, der die weinende Jenny der Obhut von Mrs. Middleton übergeben
hatte. »Laß das Mädchen in Ruhe!«
»Aber sehen Sie sie
doch nur an, Mr. Rainbird«, rief Dave hämisch frohlockend.
Lizzie versuchte
sich zu verstecken, indem sie sich niederkauerte und den Bratspieß vor dem Herd
polierte.
»Steh auf, Lizzie!«
befahl Rainbird.
Lizzie erhob sich
mit gesenktem Kopf. Ihr
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