01 - Tage der Sehnsucht
ganze
Prozession folgte der Kutsche zurück in die Clarges Street. Anscheinend wieder
hergestellt, dankte Mr. Sinclair seinen Reitern überschwänglich und drängte
sie, zu Gebäck und Wein hereinzukommen. Der verwirrte Rainbird tat sein Bestes.
Der Wein war leicht, sauer und gepanscht, das Gebäck altbacken und zum halben
Preis gekauft. Die Gesellschaft aß und trank mutig drauflos und prägte sich
alle Anzeichen des Geizes ein, um sie später bei Gesellschaften und Empfängen
zum Besten zu geben.
»Eigentlich haben
wir von seinem Geiz kaum etwas gemerkt« sagte Lord Petersham später. »Wir alle
waren viel zu sehr davon in Anspruch genommen, uns an Fionas Schönheit zu er
freuen.«
Im Souterrain legte
Rainbird an diesem Abend alle Trinkgelder sorgfältig in einen Topf. Alles
sollte nach seinem feierlichen Versprechen gleichmäßig verteilt werden. Mrs.
Middleton und Joseph hatten freilich verlangt, dass die Aufteilung abgestuft
nach ihrem Rang innerhalb der Angestelltenhierarchie erfolgen sollte.
Aber Rainbird
erwiderte, sie hätten zusammen gedarbt und sollten daher nun auch gleichmäßig
am Gewinn beteiligt sein. »Ich weiß nicht, ob es noch einmal einen solchen
Geldsegen gibt«, meinte er düster. »So lasst ihn uns behandeln, als ob er der
letzte wäre. Dass du mir ja nicht deinen Anteil für Kerzen verschwendest,
Lizzie!«
»Ach, Mr.
Rainbird«, erwiderte Lizzie, »ich wünschte mir so sehr, dass Sie mich wieder
beten ließen.«
»Hör auf damit,
Mädchen«, verlangte Rainbird. »Bete vor deinem Bett, wenn es unbedingt sein muss.
Es gibt hier genug zu tun, auch ohne dass du wegläufst und dein Geld für Kerzen
verschwendest.«
»Mir scheint, dass
es bei dir im Oberstübchen nicht ganz stimmt, Lizzie«, kicherte Joseph.
»Werden Sie wohl
unsere Lizzie in Ruhe lassen, Joseph, Sie eingebildeter Affe!« knurrte der
Butler. Dabei lächelte er Lizzie charmant an, was diese gewöhnlich zum Lachen
brachte. Doch heute verfehlte es seine Wirkung. Denn Lizzie betete Joseph an,
und seine Bemerkung hatte sie tief getroffen.
Aber jetzt öffnete
sich die Tür, und Miß Fiona Sinclair trat ein.
Miß Harriet Giles-Denton und Miß
Bessie Plumtree hatten sich den Abend über in Mr. Pardons Stadthaus amüsiert,
bis der Name Fiona Sinclair fiel. Ihre Eltern, die mit ihnen für eine weitere
Saison nach London gereist waren, hatten beiden großzügig erlaubt, ein
Hauskonzert bei Mr. Pardon zu besuchen, freilich nur unter der strengen
Aufsicht einer unverheirateten Tante von Miß Plumtree, die von beiden Familien
als Anstandsdame der zwei Töchter engagiert worden war.
Ob Mr. Pardon ein
geeigneter Umgang sei oder nicht, war zwischen den Eltern nach ihrer Ankunft in
London viel diskutiert worden. Schließlich hatte Mr. Giles-Denton Hinweis, dass
Pardon in der tonangebenden Gesellschaft wohlgelitten sei, die Sache
entschieden. Dies stimmte tatsächlich, denn die ruchlosen Taten von Mr. Pardon
hatten sich sehr diskret in oder nahe bei seinem Herrensitz an der schottischen
Grenze abgespielt, und da er seine Gäste großzügig bewirtete, wurde er für
einen anständigen Kerl gehalten.
An diesem Abend
hatte sich eine recht illustre Gesellschaft zusammengefunden. Natürlich war
auch Mrs. Leech dabei. Aber weder Bessie noch Harriet erlaubten sich, über sie
nachzudenken. Würde das doch vielleicht Gefühle erzeugen, die für eine Dame
unstatthaft waren.
Der musikalische
Teil war vorüber, und die Gesellschaft bewegte sich zwanglos durch die Räume,
saß plaudernd da oder posierte vor den anderen, als Harriet plötzlich Fionas
Namen hörte. Sofort verlor sie ihre während des ganzen Tages einstudierte
Haltung, die darin bestand, ihr Kinn auf die plumpen Hände zu stützen und mit
finsterer Miene ins Leere zu starren.
Angetan mit einem
von Gold- und Silberfäden durchzogenen Kleid, dessen Ärmel ihre spitzen
Ellenbogen preisgaben, und gekrönt mit einem blauen Turban, hatte sich auch
Bessie gerade in Positur gesetzt. Sie sah mit feuchtschimmernden Blicken, die
die reichliche Benutzung von Belladonna verrieten, um sich. Da machte auch bei
ihr dieser elende Name »Fiona« allem ein Ende.
Es war eine gewisse
Lady Disher, die den gefürchteten Namen aussprach. »Wer ist eigentlich diese
schöne Fiona Sinclair, von der jeder schwärmt?« fragte sie gelangweilt. »Sie
hat offenbar heute nachmittag im Green Park eine regelrechte Sensation
hervorgerufen.«
»Ach, wir sind ihr
schon einmal begegnet«, sagte Harriet. »Als sie mit der
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