01 - Tage der Sehnsucht
Teil
ihres Gesichtes bedeckt war.
»Das ist nicht
nötig«, meinte Mr. Sinclair. »Zieh die Kapuze herab! Du siehst hübsch aus!«
Aber Ihr Bruder
sagte ...«
»Ach was! Das
Schlitzohr Jamie wußte, dass du ein Diamant reinsten Wassers bist, wollte aber
nicht, dass du es merkst.«
Wieder legte sich
ihre Stirn vor Überraschung in Falten. Aber sie zog die Kapuze gehorsam herab.
Ihr blauer Wollmantel war schon alt, doch ihre bezaubernde Erscheinung ließ ihn
wie Samt wirken. Mr. Sinclair spürte, wie sein Herz schneller schlug.
Ihr Spaziergang auf
der Royal Mile verursachte eine Sensation. Die Männer blieben wie vom Donner
gerührt stehen und starrten Fiona mit offenem Mund an. Die Kutschen verstopften
die Straßen, weil die Lenker von den Böcken aufstanden und sich die Hälse
verrenkten, um einen Blick auf Fiona zu erhaschen, die an Mr. Sinclairs Seite
anmutige Trippelschritte machte.
Es war windig, aber
man spürte einen leisen warmen Frühlingshauch in der Luft. Als Mr. Sinclair mit
Fiona John Dowies Schenke
betrat, platzte er fast vor Stolz.
In seiner Jugend
waren auch angesehene Damen ins Wirtshaus gegangen. Aber dieser großzügigen
Einstellung war eine - neue Welle der Prüderie gefolgt. Als Mr. Sinclair
eintrat, befanden sich nur Männer in dem schmalen Raum - Männer, die bei
Fionas Anblick aufstanden.
»Setzen Sie sich
doch!« rief Mr. Sinclair verlegen. »Haben Sie noch nie ein junges Mädchen
gesehen?«
Die Männer setzten
sich langsam, fuhren aber fort, Fiona anzustarren. Mr. Sinclair bestellte eine
Flasche Bordeaux. Es war zwecklos, mit dem Geld jetzt noch sparsam umzugehen,
da er sowieso allem ein Ende machen wollte. Trotzdem war er offenbar nicht mehr
so verzweifelt wie am Vortag. Fiona nippte vorsichtig an ihrem Glas.
»Wie kam es dazu, dass
du bei Jamie gewohnt hast?« fragte Mr. Sinclair.
»Ich war im
Waisenhaus und Ihr Bruder einer der Kuratoren. Der Leiter des Waisenhauses
teilte mir eines Tages mit, dass ich nun das Mündel Mr. Sinclairs sei und bei
ihm leben solle. Man erwartete, dass ich ein braves Mädchen sein und fleißig
die Bibel lesen würde.«
»Und war er
freundlich zu dir?«
»0 ja, sehr
freundlich. Er las mir immer aus der Bibel vor und forderte mich auf, zu Gott
zu beten, damit ich die Bürde meiner Hässlichkeit ertrüge.«
»Mein liebes
Mädchen, du bist schön.«
»Sie sind der
einzige Mensch, der so denkt. Es ist wirklich sehr nett von Ihnen, so zu
lügen.«
»Ich lüge nicht«,
schrie Mr. Sinclair. Dann senkte er die Stimme. »Hat dich Jamie nie ... nun ...
in irgendeiner Weise berührt?«
»Doch. Manchmal
strich er mir übers Haar und nannte mich sein armes Kind.«
»Und das war
alles?«
»Natürlich. An was
dachten Sie denn noch?«
Mr. Sinclair zog
sein Taschentuch aus der Hosentasche, stellte leicht erstaunt fest, dass es
sauber war, und wischte sich die Stirn ab. »An nichts«, wehrte er ab.
Sein Blick fiel auf
eine Ausgabe der »Morning Post«. Er durchblätterte sie gedankenlos und erinnert
sich dabei an das, was die beiden Anwälte gestern über die Londoner Saison
gesagt hatten.
Plötzlich hatte er
eine Idee, bei der ihm der Mund offen blieb. Er blickte zu Fiona und wieder
zurück auf die Zeitung und nochmals zu Fiona. Es wäre herrlich, wenn Jamie, der
jetzt vom Himmel herabschaute oder, wahrscheinlicher, aus der Hölle empor,
mitansehen könnte, wie er, Roderick, doch noch zu einem Vermögen kam.
Zweifellos würde
eine erlesene Schönheit wie Fiona London im Sturm erobern. Mr. Sinclair begann
zu schwitzen. Gedanken, Hoffnungen und Pläne kreuzten sich in seinem Hirn.
Allerdings würde
keine Person von Rang einem jungen Mädchen einen Besuch abstatten, das in einer
ärmeren Wohngegend lebte. Er blätterte immer wieder in der Zeitung und überflog
die Anzeigen, ohne recht zu wissen, was er las. Doch auf einmal sprang ihm eine
Annonce förmlich in die Augen.
EIN HAUS FÜR DIE SAISON
Clarges Street 67, Mayfair.
Möbliertes Stadthaus. Geschultes
Personal. Miete: 8o Pfund Sterling.
Anfragen an Mr. Palmer, Holborn 25.
Als junger Mann hatte Mr. Sinclair London
mehrfach besucht. Er kannte die Clarges Street und wußte, dass die Miete für
ein Stadthaus in Mayfair außerordentlich gering war, wenn sie auch dem einen
oder anderen sehr hoch erscheinen mochte. Angenommen, er verkaufte seine
Wohnung samt Zubehör, dann hatte er genügend Geld, um Fiona während einer
Saison in London freizuhalten. Sollte das nicht funktionieren, würde er
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