01 - Tage der Sehnsucht
erschrocken gewesen, als er erfuhr, wie wenig sie
sonst noch besaß. Ihre ganze Garderobe bestand aus zwei Woll- und zwei
Baumwollkleidern, die alle irgendwann im letzten Jahrhundert angefertigt worden
waren. Dazu kamen sorgfältig ausgebesserte Hemden, Strümpfe und ein Paar
Schuhe. Jamie hatte ihre Ausstattung offenbar aus den Spenden zusammengeklaubt,
die an einen seiner Wohltätigkeitsvereine gegangen waren. Das hatte seinen
Bruder freilich nicht daran gehindert, ihr zu erklären, dass sie mit dem, was
sie besitze, auf jeden Fall bis London auskommen müsse. Denn was die
Edinburgher Läden an Neuestem zu bieten hätten, könnte sich in London unter
Umständen als schrecklich provinziell erweisen.
Die Kutsche setzte
schwankend ihren Weg durch den heftigen Schneesturm fort.
»Ich zahle gutes
Geld für die Reise nach London«, sagte die alte Jungfer mit den scharfen
Gesichtszügen. »Mir wurde versichert, dass die Königliche Post bei jedem Wetter
fährt.«
»Wir fahren ja
noch, gnädige Frau«, erwiderte der Kanzlist müde. »Die armen Leute auf dem Dach
müssen schon zu Eis erstarrt sein.«
»Das ist ein
seltsamer Frühling«, sagte Mr. Sinclair fröstelnd.
Die Kutsche kam
quietschend zum Stehen. Sie schaukelte ein wenig, als der Kutscher vom Bock
stieg. Er riss den Verschlag auf, und die alte Jungfer ließ einen Protestschrei
hören, als der Wind Schnee ins Kutscheninnere wirbelte.
»Wir können keinen
Schritt weiterfahren«, sagte der Kutscher. »Da vorn ist eine Einfahrt,
höchstwahrscheinlich ein Herrensitz. Werde nachschauen, ob sie uns aufnehmen
können. Zum nächsten Gasthof sind es fünfzehn Meilen, und das würden wir bei
dem Wetter nie schaffen.«
Als die alte
Jungfer gerade zum Protest ansetzen wollte, schlug der Kutscher die Tür zu.
»So, wirklich?«,
entrüstete sie sich. »Ich werde eine geharnischte Beschwerde einreichen.«
Fiona wischte die
beschlagene Scheibe mit ihrem Ärmel ab und blickte mit verzücktem Staunen in
die wirbelnde weiße Pracht. Mr. Sinclair fiel erneut ein, dass er sehr wenig
über sie wußte und sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, sie auszufragen.
Kannte sie ihre Eltern? Den Namen Sinclair hatte sie von Jamie erhalten. Wie
lautete ihr wirklicher Familienname?
Die Kutsche
schwankte, als sie von der Straße abbog. Endlich hielt sie vor einem großen Herrenhaus,
dessen Säulenportal von einer Lampe erhellt wurde. Der Kutscher stieg ab und
zog die Glocke.
Ein gepuderter,
livrierter Lakai trat auf die Türschwelle und verschwand wieder. An seiner
Stelle erschien ein imposant aussehender Butler, der jedoch abweisend den Kopf
schüttelte. Der Kutscher begann mit den Armen zu gestikulieren. In der Kutsche
konnte man nicht verstehen, was gesagt wurde. Doch niemand wollte das Fenster
öffnen, weil man riskiert hätte, noch das letzte bisschen Wärme im Wageninnern
einzubüßen.
Der Butler zog sich
einen Augenblick zurück und erschien dann wieder mit einem hochgewachsenen
Herrn an seiner Seite. Das Gesicht dieses Herrn, dem man sein ausschweifendes
Leben ansah, war auffallend geschminkt. Seine Kleidung zeigte Eleganz, während
sein blondes Haar zu einem. Aufbau von künstlich durcheinandergebrachten Locken
toupiert war. Er hörte sich den Bericht des Kutschers mit gelangweilter Miene
an und sagte dann etwas zum Butler.
Der Kutscher kam
zum Wagen zurück und rieb sich die Hände. Er öffnete den Schlag und sagte
fröhlich: »Wir können die Nacht in der Küche verbringen, Nahrung und Wärme sind
also gesichert.«
»Wem gehört das
Anwesen?« fragte Mr. Sinclair.
»Einem Herrn namens
Pardon.«
Pardon. Sinclair
runzelte die Stirn. Mit dem Namen stimmte etwas nicht. Er blickte beunruhigt in
Fionas unschuldiges Gesicht und hatte zum ersten Mal das Gefühl der
Unzulänglichkeit. Er spürte, er hätte so ein Unschuldslamm niemals in diese
eiskalte Welt bringen dürfen.
Ihre Habseligkeiten
in den Händen, gingen die Reisenden dicht zusammengedrängt in die
Eingangshalle. Diese war holzgetäfelt, und an den Wänden hingen Portraits. In
einem Marmorkamin brannte ein Feuer, und der Duft von Rosenwasser erfüllte die
Luft.
»Hier entlang«,
sagte der Butler und ging voran bis zum Ende der Halle, um die Reisenden in die
Küche hinabzuführen.
Mr. Pardon stand
vor dem Kamin und wärmte sich bei hochgezogenen Rockschößen den Hosenboden.
»Lassen Sie das Dinner auftragen, Johnson«, rief er seinem Butler zu. »Meine
Gäste sind schon ganz ausgehungert.«
»Sehr wohl,
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