01 - Wie Feuer im Blut
gegen Whitmans Jochbein war wuchtig genug, dass er das Gleichgewicht
verlor und gegen einen Tisch mit Nippes prallte. Das Klirren des zerschellenden
Porzellans war so laut, dass Jewel herbeieilte und kreischte wie eine Weihnachtsgans,
der man den Hals umdrehen wollte.
Auf ihren
noch kraftlosen Beinen schwankend, starrte Bonnie die Dienerin an und sagte:
»Er ist gestolpert.«
»Mylord!«
kreischte die Jewel, als sie wieder aus der Tür rannte.
Bonnie
schaute den Doktor an. Er lag auf dem Boden und rührte sich nicht. Nun ich fühle
mich auch nicht besonders, dachte Bonnie höhnisch zufrieden, dass sie noch
immer vor Birdie Smythe in Sicherheit war, kroch sie wieder unter die Decke,
legte den Kopf auf den Damastbezug des Kopfkissens und war in der nächsten
Sekunde eingeschlafen.
Sie glaubte, hätte
es aber nicht mit Gewissheit sagen können, dass sie wieder drei oder vier Tage
durchgeschlafen hatte, bevor sie nun ihre ganze Kraft zusammennahm und sich im
Bett aufsetzte. Verschwommen erinnerte sie sich daran, dass sie auf ein Herrenhaus
zugewankt, durch eine riesige Doppeltür gestolpert und dann auf einen harten
Marmorboden aus weißen und schwarzen Platten gefallen war. Sie war nass gewesen
bis auf die Haut. Sie hatte gefroren. Sie war furchtbar krank gewesen. Aber
sie fühle sich jetzt besser und kräftiger. Zum ersten Mal seit Tagen knurrte
ihr der Magen vor Hunger.
Vorsichtig
glitt sie aus dem Bett und lehnte sich dagegen, bis das Zimmer sich nicht mehr
um sie herum drehte. Ihre Knie waren schwach. Sie machte einen Schritt, dann
zwei und hielt sich immer noch am Bett fest, bis sie sicher sein konnte, dass
sie stark genug war, ohne Stütze zu gehen. So weit, so gut. Wenn sie es bis zur
Tür schaffte, würde sie sicherlich jemanden finden, der ihr half. Da waren
genug Leute in den letzten Tagen um sie herum gewesen.
Sie
hatte den halben Weg zur Tür zurückgelegt, als sie sich im Drehspiegel sah. Ihr
erster Gedanke, als sie dieses elende, zerzauste Geschöpf erblickte, war: Was
ist das für eine bedauernswerte Jammergestalt! Erst dann begriff sie, dass sie
ihr eigenes Spiegelbild bemitleidete. Ein Schamgefühl ergriff sie - so
heiß wie eine Flamme. Sie hatte sich zum letzten Mal an dem Nachmittag, an dem
ihr Vater ermordet worden war - vor vier ... nein, fünf Jahren -
in einem Spiegel betrachtet.
Ihr
Vater ...
Der
Alptraum, der sie seit Jahren verfolgte, drang wieder in ihr Bewusstsein. Ihr
wurde bewußt, dass die Erinnerung an die Ermordung ihres Vaters ihren Geist im
Fieber beherrscht hatte. Sie erinnerte sich auch vage daran, dass sie im Delirium
geschrien und nach ihrem Vater gerufen hatte. Diese Erkenntnis traf sie wie ein
Keulenschlag. Verdammt, was hatte sie diesen Leuten verraten? Fünf schreckliche
Jahre hatte sie mit dem Geheimnis gelebt, wie ihr Vater umgekommen war. Nachdem
sie Zeugin seiner Ermordung geworden war, war sie vor dem Mörder geflohen und
hatte sich tagelang im kalten Moor versteckt, überzeugt davon, dass dieses
Ungeheuer ebenfalls einen Weg finden würde, sie zu ermorden, wenn sie sich mit
ihrer Geschichte bei den Behörden meldete. Aus diesem Grund hatte sie in all
den grausamen Jahren in Caldbergh nie ihren wahren Namen offenbart.
Sie
blickte wieder in den Spiegel, schloss die Augen und wandte sich um, während
der Zorn, der Schmerz und die Scham in ihr brannten wie bittere Galle. Birdie
Smythe und seine Helfershelfer hatten ihr das angetan. Sie hatten sich alle
Mühe gegeben, die Menschen in Caldbergh in Tiere zu verwandeln, in hilflose
dumpfe Tiere, so dass die Alternativen, die sie schließlich anboten, zu verlockend
war, um ihr widerstehen zu können. O ja, sie verstand das nun alles. Mit einem
Mal wußte sie, warum einige Mädchen nie so schlecht behandelt wurden wie
andere; warum sie keine Misshandlungen erfuhren von diesen schmutzigen Wärtern
und stets getrennt gehalten wurden von den Knaben.
Der
Geruch von Essen holte sie in die Gegenwart zurück. Sie stand in der Tür,
klammerte sich an den Pfosten, schloss die Augen und genoss diesen Duft von gebratenem
Fleisch. Himmel, wie lange war es her, seit sie zum letzten Mal etwas gekaut
hatte, was nicht halb roh, halb verwest, halb verschimmelt oder zu lange
gekocht worden war?
Ihr
Magen zog sich so heftig zusammen, dass ihr der Atem stockte und sie sich vor
Schmerzen krümmte. Hätte sie noch etwas in sich gehabt, was sie hätte erbrechen
können, sie hätte es jetzt auf den Boden gespuckt. Aber so wurde sie nur
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