01 - Winnetou I
schon am nächsten Tag bei euch sein konnten. Da ist wieder viel Blut geflossen; wir haben im ganzen sechzehn Tote, ohne das Blut und die Schmerzen der Verwundeten zu rächen, ein abermaliger Grund, daß ihr sterben müßt. Ihr habt weder Gnade noch Erbarmen zu erwarten und – – –“
„Gnade wollen wir gar nicht, sondern nur Gerechtigkeit“, fiel Sam ihm in die Rede. „Ich kann – – –“
„Wirst du wohl schweigen, Hund!“ unterbrach ihn Intschu tschuna zornig. „Du hast nur zu sprechen, wenn ich dich frage. Ich bin überhaupt nun mit dir, mit euch fertig. Da du aber von Gerechtigkeit redest, so sollt ihr nicht nur nach deiner eigenen Aussage verurteilt werden, sondern ich will euch einen Zeugen gegenüberstellen. Tangua, der Häuptling der Kiowas, mag sich herablassen, in dieser Angelegenheit seine Stimme zu erheben. Sind diese Bleichgesichter unsere Freunde?“
„Nein“, antwortete der Kiowa, dem man die Genugtuung darüber, daß die Sache für uns einen so bedenklichen Lauf nahm, deutlich ansah.
„Haben sie uns schonen wollen?“
„Nein. Sie haben mich vielmehr gegen euch aufgehetzt und mich gebeten, ja keine Nachsicht mit euch zu haben, sondern euch zu töten, alle zu töten.“
Diese Unwahrheit empörte mich so, daß ich mein bisheriges Schweigen brach und ihm in das Gesicht sagte:
„Das ist eine so große, unverschämte Lüge, daß ich dich sofort zu Boden schlagen würde, wenn ich nur eine Hand frei hätte!“
„Hund, stinkender!“ brauste er auf. „Soll ich es sein, der dich erschlägt?“
Er hob die Faust empor; ich antwortete:
„Schlag zu, wenn du dich nicht schämst, dich an jemandem zu vergreifen, der sich nicht wehren kann! Ihr redet da von einem Verhör und von Gerechtigkeit? Ist das ein Verhör, und ist das Gerechtigkeit, wenn man nicht sagen darf, was man zu sagen hat? Wir sollen uns verteidigen dürfen? Können wir das, wenn wir bis auf das Blut geschlagen werden sollen, falls wir nur ein einziges Wort mehr reden, als ihr hören wollt? Intschu tschuna verfährt wie ein ungerechter Richter. Er stellt die Fragen so, daß uns die Antworten, welche er uns erlaubt, ins Verderben führen müssen; andere Antworten dürfen wir nicht geben, und wenn wir die Wahrheit sagen wollen, welche uns retten würde, so unterbricht er uns, läßt uns nicht ausreden und droht uns mit Mißhandlungen. Ein solches Verhör und eine solche Gerechtigkeit brauchen wir nicht. Da beginnt doch lieber gleich mit den Martern, die ihr uns zugedacht habt! Ihr werdet keinen Laut des Schmerzes von uns zu hören bekommen.“
„Uff, uff!“ hörte ich eine weibliche Stimme bewundernd rufen. Es war die Schwester Winnetous.
„Uff, uff, uff!“ riefen viele Apachen ihr nach.
Der Mut ist stets das, was der Indianer stets achtet und selbst an seinem Feinde anerkennt; daher die Ausrufe der Bewunderung, welche ich jetzt zu hören bekam. Ich fuhr fort:
„Als ich Intschu tschuna und Winnetou zum ersten Male erblickte, sagte mir mein Herz, daß sie tapfere und gerechte Männer seien, die ich lieben und auch achten könne. Ich habe mich geirrt. Sie sind nicht besser als alle andern, denn sie hören auf die Stimme eines Lügners und lassen die Wahrheit nicht zu Worte kommen. Sam Hawkens hat sich einschüchtern lassen; ich aber höre nicht auf eure Drohungen und verachte jeden, der den Gefangenen unterdrückt, nur weil er sich nicht verteidigen kann. Wäre ich frei, so wollte ich noch ganz anders mit euch reden!“
„Hund, du schimpfest mich einen Lügner!“ schrie Tangua. „Ich zerschmettere dir die Knochen!“
Er hielt sein Gewehr in der Hand, drehte es um und wollte mit dem Kolben nach mir schlagen; da sprang Winnetou herbei, hielt ihn davon ab und sagte:
„Der Häuptling der Kiowas mag ruhig bleiben! Dieser Old Shatterhand hat sehr kühn gesprochen, aber ich stimme einigen seiner Worte bei. Intschu tschuna, mein Vater, der Oberhäuptling aller Apachen, mag ihm die Erlaubnis erteilen, was er zu sagen hat!“
Tangua mußte sich beruhigen, und Intschu tschuna entschloß sich, dem Wunsch seines Sohnes Folge zu geben. Er trat näher zu mir heran und sagte:
„Old Shatterhand ist wie ein Raubvogel, der selbst dann noch beißt, wenn man ihn gefangen hat. Hast du nicht Winnetou zweimal niedergeschlagen? Hast du nicht selbst mich mit der Faust betäubt?“
„Habe ich das freiwillig getan? Hast du mich nicht dazu gezwungen?“
„Gezwungen?“ fragte er erstaunt.
„Ja. Wir wollten uns ohne
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