01 - Winnetou I
was zu geschehen hat.“
„Was zu geschehen hat! Was wird mein Bruder Old Shatterhand uns da vorschlagen?“
„Hier kann man nicht eher einen Vorschlag machen, als bis man weiß, was die Kiowas unternommen haben, nachdem sie bemerkten, daß wir nicht mehr da waren.“
„Muß man dies erfahren? Kann man es nicht vielleicht auch erraten?“
„Ja, erraten kann man es, aber das Erraten bietet nie die Sicherheit wie das Sehen und Hören, das wirkliche Erfahren. Man kann sich irren.“
„Hier nicht. Die Kiowas sind keine Kinder, sondern erwachsene Krieger; sie werden von allem, was hier möglich ist, das Klügste tun, und das ist nur eins.“
„Sie reiten fort? Nach ihrem Dorf?“
„Ja. Wenn sie dich nicht angetroffen haben, so wissen sie, daß Santers Absicht nun nicht auszuführen ist, und der Anführer wird wieder auf seinen Vorschlag zurückkommen. Ich bin überzeugt, daß sie es aufgeben, uns hier noch anzugreifen.“
„Santer wird doch versuchen, sie dazu zu bereden!“
„Das tut er gewiß, aber niemand wird auf ihn hören. Sie reiten fort.“
„Und wir? Was tun da wir? Reiten wir, wie sie erwarten, ihnen nach?“
„Oder ihnen voran!“
„Auch gut! Da kommen wir ihnen vor und können sie überrumpeln.“
„Ja das könnten wir; aber es gibt etwas weit Besseres. Wir müssen Santer haben, und wir wollen Sam Hawkens befreien. Unser Weg führt uns also nach dem Dorf Tanguas, wo sich Hawkens in Gefangenschaft befindet; aber es braucht nicht ganz derselbe Weg zu sein, den diese Kiowas von hier aus einschlagen. Diesen müssen wir vermeiden, weil man uns auf demselben erwartet. Wenn wir ihn einschlagen, können wir nicht unbemerkt bleiben, und dies ist doch erforderlich, wenn wir das, was wir beabsichtigen, erreichen wollen.“
„Kennt mein Bruder Winnetou das Dorf des Häuptlings Tangua?“
„Ja.“
„Und weißt du ganz genau, wo es liegt?“
„So genau, wie ich die Lage meines eigenen Pueblo kenne. Es liegt am Salt Fork des Red River-Nordarmes.“
„Also südöstlich von hier?“
„Ja.“
„So werden wir aus Nordwesten erwartet und sollten es ermöglichen, von der entgegengesetzten Richtung, also aus Südosten zu kommen.“
„Das ist es, was auch ich will. Mein Bruder Shatterhand hat stets dieselben Gedanken wie ich. Es ist ganz so, wie Intschu tschuna, mein Vater, sagte, als wir das Blut der Bruderschaft miteinander getrunken hatten: ‚Die Seele lebt im Blut. Die Seelen dieser beiden jungen Krieger mögen ineinander übergehen, daß sie eine einzige Seele bilden. Was Old Shatterhand dann denkt, das sei auch Winnetous Gedanke, und was Winnetou will, das sei auch der Wille Old Shatterhands!’ So hat er gesprochen, und so ist es geschehen. Sein Auge blickte in unsere Herzen und es sah unsere Zukunft offen. Es wird ihn auch in den ewigen Jagdgründen freuen und seine Seligkeit erhöhen, daß seine Vorhersagung so eingetroffen ist. Howgh!“
Er schwieg bewegt, und alle, die wir uns bei ihm befanden, achteten dieses Schweigen. Es war ein stummer und doch so beredter Ausdruck der Pietät, welche der Sohn seinem toten Vater widmete. Erst nach einigen Minuten räusperte er sich wie verlegen über die Rührung, welcher er sich hingegeben hatte, und fuhr fort:
„Ja, wir werden das Dorf Tanguas aufsuchen, doch nicht auf dem geraden und kürzesten Weg, den die Kiowas einschlagen, sondern sein Gebiet umreiten, damit wir von der andern Seite kommen. Diese ist unbewacht, und da kann uns das, was wir beabsichtigen, leichter gelingen. Es fragt sich nur, wann wir von hier aufbrechen sollen. Wie denkt Old Shatterhand hierüber?“
„Wir könnten sogleich fortreiten; der Weg ist weit, und je früher wir ihn antreten, desto eher kommen wir an das Ziel. Aber ich möchte doch nicht raten, dies zu tun.“
„Warum nicht?“
„Weil wir nicht wissen, wann die Kiowas diese Gegend verlassen.“
„Wahrscheinlich schon heut abend.“
„Das nehme auch ich als wahrscheinlich an; aber möglich ist es doch, daß es erst morgen geschieht. Es erscheint mir auch als noch gar nicht so ausgeschlossen, daß sie doch wieder auf den Gedanken kommen, uns noch anzugreifen. Auf alle Fälle müssen wir, wenn wir eher fortgehen als sie, darauf gefaßt sein, daß sie unsere Fährte entdecken und derselben folgen. Dann merken oder erraten sie, was wir vorhaben, und vereiteln es.“
„Mein Bruder spricht abermals meine Gedanken aus. Wir müssen hier bleiben, bis sie fort sind; dann sind wir sicher, daß sie uns
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