010 - Skandal in Waverly Hall
die Lüge, mit der er leben mußte. Deshalb werde ich alles aufdecken."
Ciarisse dachte, sie hätte sich verhört. Anders war es nicht möglich.
„Ich habe nur ein Ziel: der Welt die Wahrheit über Sie und Ihren Sohn zu sagen", erklärte Fairhaven.
24. KAPITEL
Anne aß allein zu Abend. Ciarisse war nicht erschienen. Wahrscheinlich speiste sie in ihren eigenen Räumen. Dorni-nick war im Schlafzimmer des Herzog geblieben, wo er den ganzen Nachmittag verbracht hatte.
Anne hatte keinen Appetit. Sie beendete ihre Mahlzeit, so schnell sie konnte, und zog sich nach oben zurück. Gern hätte sie nachgesehen, wie es Rutherford ging.
Doch Dominick war bei ihm, deshalb verzichtete sie darauf.
Belle berichtete ihr, was sie wußte. Nach Auskunft der Zofe hatte sich der Zustand des Herzogs nicht verändert. Er war immer noch bewußtlos. Dominick war in dem Sessel eingeschlafen, den er an das Bett seines Großvaters gezogen hatte.
Anne ging nervös in ihrem Zimmer auf und ab. Sie trug ein seidenes Nachthemd mit einem passenden Négligé, und ihr Haar war zu einem langen Zopf geflochten. Sie machte sich furchtbare Sorgen um Rutherford und war so betrübt, als wäre der Herzog schon gestorben.
Dominick war ebenfalls tief bestürzt und verzweifelt. Sie wagte nicht einmal daran zu denken, wie er litt.
„Ich muß dringend mit dir reden, Anne."
Anne fuhr herum, denn Dominick hatte ohne anzuklopfen das Zimmer betreten. „Ist der Herzog ..." Sie konnte nicht weitersprechen.
„Sein Zustand ist unverändert", erklärte er und sah sie verbittert an.
Anne klammerte sich an einen Bettpfosten. Was wollte Dominick von ihr? Eine böse Vorahnung erfaßte sie. Die Spannung im Raum war beinahe körperlich spürbar. Sie versuchte, sich zusammenzureißen, aber es gelang ihr nicht.
Dominick stand nur wenige Schritte entfernt und betrachtete sie mit undurchdringlicher Miene. Er sah ziemlich unor-dentlich aus und war wohl gerade erst aufgewacht. Sein Haar war zerzaust. Er trug immer noch die Reithose und die verstaubten Stiefel vom Nachmittag, hatte seine Jacke und seine Weste aber abgelegt. Sein Hemd war zerdrückt und stand fast bis zur Taille offen. Anne hütete sich, auf seine gebräunte Brust zu schauen.
Plötzlich erkannte sie, daß ihr zartes Négligé das hauchdünne Nachthemd darunter nicht verbarg und ihren Körper kaum verhüllte.
„Hättest du nicht anklopfen können?" stieß sie verärgert hervor und errötete heftig.
Was wollte Dominick? Patricks und Beiles Verdacht kam ihr wieder in den Sinn.
Er ging nicht auf ihre Bemerkung ein. „Fairhaven hat mich heute besucht. Er war nicht nur Philips Freund, sondern wesentlich mehr. Er wollte mich erpressen. "
Anne sah ihn mit offenem Mund an und vergaß ihre spärliche Bekleidung. Ihr Verstand arbeitete wie wild. „Er wollte dich erpressen?" wiederholte sie ungläubig.
„Ja." Dominick sprach, als zitierte er einige Zeilen, die er auswendig gelernt hatte.
„Er behauptet, er hätte einen Beweis dafür, daß ich nicht Philips Sohn bin."
Anne faßte den Bettpfosten fester. „Wie bitte? Das ist absurd!"
Dominick verzog keine Miene. Sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. „Ehrlich gesagt, ich hatte schon eine ganze Weile den Verdacht, daß Philip nicht mein Vater war. Es trifft zu, Anne. Ciarisse hat es mir bestätigt."
Anne mußte sich setzen. Sie wählte einen Stuhl, der noch weiter von Dominick entfernt stand als das Bett, und legte die Arme um ihren Körper. Als sie den Kopf wieder hob, stellte sie fest, daß Dominicks Augen seltsam glühten. „Wer ist dein Vater?" fragte sie endlich.
„Ich weiß es nicht und will es auch gar nicht wissen."
Anne war wie betäubt und konnte es nicht fassen. Seine Worte drangen nur langsam in ihr Bewußtsein.
„Ich dachte, du solltest es ebenfalls erfahren", fuhr Dominick fort. „Schließlich bist du meine Frau, auch wenn du nicht mehr mit mir zusammenleben möchtest."
Anne zuckte innerlich zusammen und sah ihn erstaunt an. Hatte sie einen Anflug von Bitterkeit in seiner Stimme bemerkt? Doch seine Miene blieb unbewegt. Dabei mußte ihn die Nachricht schwer getroffen haben. Sie war ja selber zutiefst bestürzt.
Langsam wurden ihr die Folgen dessen klar, was Dominick gesagt hatte. Er konnte alles verlieren, seinen Titel, sein Vermögen, seine Position und seine Ländereien. Ihr Puls begann vor Sorge zu rasen. Vor Sorge um Dominick. An sich selber dachte sie nicht.
„Wirst du Fairhaven zahlen, was er verlangt?"
„Ja,
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