010 - Skandal in Waverly Hall
„Nein, diesen Landsitz werde ich nicht verlieren.
Und das verdanke ich Rutherfords Treuhandabkommen. Und Anne", fügte er verbittert hinzu.
Anne beschloß, nicht zum Frühstück nach unten zu gehen. Sie blieb im Bett und versuchte, an nichts zu denken. Doch ihre Selbstvorwürfe wollten nicht aufhören.
Schlimmer noch, sie konnte das Bild nicht verdrängen, wie Dominick wütend aus ihrem Zimmer gestürmt war. Zorn und Spott hatten sich in seinem Gesicht gespiegelt. Beides tat weh und bereitete ihr Kummer.
Als wäre ich diejenige, die sich nicht richtig verhalten hat, dachte sie. Und das stimmte nicht.
Sie nahm eine leichte Mahlzeit im Bett zu sich. Dann konnte sie sich nicht länger vor den Pflichten des Tages drücken.
Deshalb stand sie auf und läutete nach Belle. Sie trug ein Flanellnachthemd, das bis zum Kinn geschlossen war. Für den Fall, daß Dominick noch einmal ungebeten bei ihr auftauchte, hatte sie vorsichtshalber einen ebenso sittsamen wie häßlichen Morgenmantel darüber gezogen, der genau dazu paßte.
Belle betrat das Zimmer. „Madam?" Sie lächelte vergnügt. Die junge Französin war immer gutgelaunt. Anne hatte den Eindruck, daß sie seit einigen Wochen sogar noch fröhlicher war als sonst.
„Laß mir bitte ein Bad ein, Belle", bat sie.
Die Zofe ging nach nebenan, und Anne folgte ihr. Gerade wollte sie das Ankleidezimmer betreten, in dem sich die große Porzellanwanne befand, da stürzte Belle mit leichenblassem Gesicht wieder heraus. Tränen rannen ihre Wangen hinab.
Anne blieb stehen und wurde von einer bösen Vorahnung erfaßt. „Was ist los, Belle?
Stimmt etwas nicht?"
„Gehen Sie nicht hinein, Madam! Bitte nicht!" stieß die Zofe hervor.
Anne schob sich an der zierlichen Französin vorüber und stieß die Tür weiter auf.
Entsetzt blieb sie stehen.
Das seidene Nachthemd mit dem Négligé, das sie gestern abend getragen hatte, während Dominick und sie sich liebten, lag in Stücke zerrissen auf dem gefliesten Boden.
25. KAPITEL
Anne starrte fassungslos auf den Lumpenhaufen zu ihren Füßen. Das war doch nicht möglich! Dominick hatte sich gewiß nicht in ihr Zimmer geschlichen, während sie schlief, und ihre Sachen zerstört. Wäre es der Fall, müßte er irrsinnig sein und würde sie derart hassen, daß er sie auch ermorden könnte. Dann hätten Belle und Patrick recht.
„Mylady?" fragte Belle ängstlich.
Anne versuchte zu überlegen. Doch sie hatte viel zu große Angst und mußte ständig daran denken, wie wütend Dominick gestern abend gewesen war. Ihre Zurückweisung und ihr Abscheu vor dem, was zwischen ihnen geschehen war, hatten ihn tief gekränkt. Hatte sein Zorn für solch eine Tat gereicht?
Und wenn ja, handelte es sich um einen einmaligen Vorfall, der mit den anderen Ereignissen nichts zu tun hatte?
„Was werden Sie jetzt tun?" fragte Belle.
Anne schreckte aus ihren beängstigenden Überlegungen auf. „Dominick kann es unmöglich gewesen sein, Belle. Er darf es nicht gewesen sein!" Jeder, nur nicht Dominick, flehte sie stumm. Ganz gleich, wer sonst.
„Sie haben selber gesagt, daß alle Hinweise auf ihn deuten, Mylady", antwortete die Zofe.
Nein, ich habe nur nachgeplappert, was Patrick mir eingeredet hat, dachte Anne.
Patrick! Sie hatte ihn seit Tagen nicht gesehen und mußte ihn unbedingt sprechen.
Sofort.
„Hilf mir beim Ankleiden", erklärte Anne entschlossen. „Ich werde später baden." Es war sowieso nicht nötig, denn sie war erst gestern abend in der Wanne gewesen.
Belle eilte zur Kommode, um die Unterwäsche ihrer Herrin herauszuholen. „Wollen Sie zu Mr. Collins?" fragte sie, während sie in den Schubladen stöberte.
Anne schlüpfte in ein dünnes Unterhemd und legte das Korsett an. Dann drehte sie sich um, damit die Zofe es schnü-
ren konnte. „Ja."
„Wenn Seine Lordschaft das erfährt, wird er furchtbar wütend werden", warnte Belle ihre Herrin und zerrte an den Korsettschnüren.
„Das ist zu fest!" keuchte Anne, und Belle lockerte die Schnüre.
Anne begriff, daß sie äußerst vorsichtig sein mußte. Die junge Französin hatte recht.
Sie durfte nichts tun, was Domi-nicks Aufmerksamkeit erregte. „Ich werde dafür sorgen, daß er es nicht erfährt", antwortete sie grimmig.
Seltsamerweise hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich mit Patrick treffen wollte. Dabei war er ihr Vetter und ihr bester Freund. Sie betrog ihren Mann wirklich nicht, wenn sie sich mit ihm traf, selbst wenn Dominick ihr jeden Kontakt untersagt
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