010 - Skandal in Waverly Hall
„Guten Morgen, Dominick. Bitte, bleib sitzen."
Dominick sank auf seinen Stuhl am Kopf des polierten Eichentisches zurück. „Nimm dir einen Bissen, Blake."
„Ich habe schon gefrühstückt." Blake setzte sich neben ihn. „Du bist heute spät aufgestanden."
Dominick antwortete nicht. Trotz seiner leidenschaftlichen Umarmung mit Anne am gestrigen Abend hatte er kein Auge zutun können - oder gerade deswegen nicht.
Erst nach Sonnenaufgang war er endlich eingeschlafen. Er war ziemlich erschöpft aufgewacht und als erstes zum Herzog hinübergegangen.
In seiner Benommenheit hatte er den Eindruck gehabt, daß Rutherford die Augen öffnen wollte. Doch sobald er ganz wach war, hatte er einsehen müssen, daß sich der Zustand des Großvaters kein bißchen verändert hatte.
„Wie geht es dem Herzog?" fragte Blake teilnahmsvoll, als hätte er Dominicks Gedanken erraten. Inzwischen hatte sich die Nachricht von Rutherfords Schlaganfall in der ganzen Stadt herumgesprochen.
„Es hat sich nichts geändert."
„Das tut mir leid", sagte Blake betrübt. „Aufrichtig leid."
Dominick sah den Freund an. „Mir auch."
Blake zögerte einen Moment, bevor er weitersprach. „Dominick, ich bedauere, daß ich trotz dieser Situation mit einer äußerst unerfreulichen Angelegenheit zu dir komme. Da ist etwas, das du unbedingt wissen mußt."
Dominick straffte sich innerlich. Er ahnte, was jetzt folgen würde. Doch es gelang ihm nicht, sich innerlich dagegen zu wappnen.
Blake betrachtete das Schweigen des Freundes als Zustimmung, mit seinem Bericht fortzufahren. „In der Stadt kursiert ein häßliches Gerücht."
Dominick wollte sich eine weitere Tasse Tee einschenken und wartete. Caldwell war sofort an seiner Seite. „Bitte, lassen Sie mich das machen, Mylord."
Dominick überließ dem Butler die silberne Teekanne. „Sprich weiter", forderte er den Freund grimmig auf.
„Ich weiß nicht, wer die Ungeheuerlichkeit aufgebracht hat. Aber ich hoffe, du wirst dem Kerl den Hals umdrehen", sagte Blake und lächelte gequält. „Wenn du es nicht tust, übernehme ich es für dich."
Dominick antwortete nicht, sondern blickte auf seine Hände.
„Das Gerücht besagt, daß du nicht Philip St. Georges' Sohn bist und daher auch nicht der rechtmäßige Erbe des Herzogtums", schloß er.
„Das entspricht den Tatsachen."
Blake hatte gerade eine Tasse Tee von Caldwell angenommen. Fassungslos starrte er Dominick an und verschüttete die braune Flüssigkeit. Brennend lief sie über seine Hand. Er schien es nicht zu merken. „Wie bitte?" fragte er, und sein Gesicht wurde aschfahl.
„Es entspricht den Tatsachen."
Blake rührte sich nicht. Es war, als stünde er unter einem Schock.
Dominick stand langsam auf. „Das ist kein Gerücht, Blake. Ich bin kein St. Georges."
Er lächelte verbittert. „Allerdings habe ich diese erstaunliche Tatsache auch gerade erst erfahren."
„Lieber Himmel..." Mehr konnte Blake nicht sagen.
„Ich glaube kaum, daß der mir jetzt helfen kann." Dominick ging zu dem gewaltigen Bogenfenster, das den Blick auf den üppigen Garten hinter Rutherford House freigab. Herzogin Sarah hatte ihn einst anlegen lassen, jene Frau, die er bisher als seine Großmutter betrachtet hatte.
Der Freund stand ebenfalls auf. „Bist du absolut sicher, Dominick? Es ist bestimmt kein Irrtum?"
„Nein."
„Aber du wirst es doch bestreiten", sagte er endlich und betrachtete Dominicks Rücken.
Dominick drehte sich um. „Falls Fairhaven tatsächlich einen Beweis dafür besitzt, wie er behauptet, wäre jeder gerichtliche Einspruch teuer und sinnlos."
„Du wirst alles verlieren, wenn du dich nicht wehrst", warnte Blake den Freund.
„Ich bin kein guter Lügner. Ehrlich gesagt, ich bin sogar ein ausgesprochen schlechter." Dominick zuckte resignierend die Schultern. „Ich habe nachher einen Termin bei einem Rechtsanwalt, einem der besten in der Stadt. Ich will erst abwarten, was er sagt, bevor ich weitere Schritte unternehme. "
Sie sahen sich fest in die Augen. „Schöner Schlamassel", stellte Blake fest.
„Das kann man wohl sagen."
Blake fuhr sich mit der Hand durch das dunkle lockige Haar. „Nun, auf meine Freundschaft kannst du dich verlassen."
Dominick lächelte gequält. „Danke. Ich habe nichts anderes erwartet."
Blake lächelte zurück. Plötzlich hellte sein Blick sich auf. „Mir fällt gerade etwas ein", sagte er. „Du wirst nicht alles verlieren. Zumindest nicht Waverly Hall."
Dominick sah ihn nachdenklich an.
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