010 - Skandal in Waverly Hall
könnte dir etwas tun. Ich habe diese Sachen wirklich nicht zerrissen."
Anne schüttelte den Kopf und bekam keinen Ton heraus. Ihre Knie wurden weich.
Doch irgendwie gelang es ihr, aufrecht zu bleiben.
Verärgert griff Dominick in die Innentasche seines Jak-ketts. Er zog eine langes flaches Samtkästchen heraus und reichte es ihr. „Da, nimm es", fuhr er sie an.
Anne riß erstaunt die Augen auf. Unzählige Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf.
O nein! Hatte sie sich etwa geirrt? War Dominick gekommen, um sich für die letzte Nacht zu entschuldigen und ihr ein Geschenk zu überreichen - ein Unterpfand seiner Liebe? Wollte er ihr gar nichts tun?
Ein Blick auf seine finstere Miene vertrieb ihre phantasievollen Gedanken wieder.
Ängstlich nahm sie das Kästchen an sich, öffnete es aber nicht. „Was ist das?"
„Etwas, das du heute abend tragen wirst. Öffne es."
„Heute abend? Wo gehen wir heute abend hin?" fragte sie ungläubig.
„Zu dem Ball bei den Hardings."
Anne hielt erschrocken die Luft an. „Hast du den Verstand verloren, Dominick? Dein Großvater ist sehr krank."
„Im Gegenteil, ich war selten so scharfsinnig wie heute und bin mir Rutherfords Zustand durchaus bewußt. Die Umstände erfordern es jedoch, daß wir uns dort zeigen, Anne. Bitte, öffne das Kästchen." Es klang wie ein Befehl.
Anne war entsetzt, daß Dominick auf ihrer Anwesenheit bei dem Ball bestand, und gehorchte. Niedergeschlagen betrachtete sie das kostbare dreireihige Geschmeide aus Rubinen und Diamanten. Es war kleines Vermögen wert und wog schwer in ihrer Hand.
„Gefällt es dir?" fragte er ruhig.
Sie sah ihn mit feuchten Augen an und brachte es nicht fertig, ihn anzulügen. „Nein", antwortete sie. „Unter anderen Umständen vielleicht." Sie konnte nicht weitersprechen.
„Die Umstände hast du selber geschaffen, Anne", sagte Dominick freundlich.
„Das stimmt nicht." Anne schüttelte den Kopf.
„Du hast auf der Trennung bestanden, nicht ich."
Sie sah ihn fest an. „Du hattest mich getäuscht."
„Ich versichere dir noch einmal, daß ich nicht mit dir geschlafen habe, um Waverly Hall zurückzubekommen", fuhr er sie an.
Anne zögerte einen Moment, dann reichte sie ihm das Kästchen zurück. „Ich will es nicht."
„Es gehört dir. Du bist die Marchioness of Waverly und muß den Schein wahren." Er griff erneut in die Brusttasche und zog eine weitere kleinere Schachtel desselben Juweliers hervor. „Die dazu passenden Ohrringe. Laß dir das Haar aufstecken, damit man sie gut sieht." Er wandte sich ab und wollte gehen.
Plötzlich blieb er noch einmal stehen. „Hast du etwas Geeignetes zum Anziehen?"
Langsam wurde Anne wütend. „Ich nehme an, du meinst ein Abendkleid."
„Ja, das meine ich. Genauer gesagt, ein modisches, elegantes Abendkleid - und nichts Schwarzes", verkündete er.
„Ich will nicht auf diesen Ball", sagte Anne.
„Ich habe dich nicht danach gefragt, was du möchtest", erwiderte Dominick kühl.
„Weshalb tust du das?" rief sie.
„Weshalb ich was tue? Dir eine Riesensumme in Form von Juwelen zu überreichen?
Darauf zu bestehen, daß du den Schmuck trägst und gemeinsam mit mir den wichtigsten Ball der Saison besuchst?" Sein Blick bohrte sich in ihre Augen. „Vor vier Jahren gab ich dir meinen Namen, für gute und für schlechte Zeiten. Nun, jetzt haben wir die schlechteren Zeiten. Sei bis neun Uhr fertig."
Anne betrachtete sein kühles Gesicht und hielt das Geschmeide so fest, daß sich die Steine in ihre Handfläche drückten. „Wie du wünschst", sagt sie endlich.
Dominicks Zorn legte sich ein wenig, und er sah sie seltsam an. Dann drehte er sich um, verließ das Ankleidezimmer und blieb noch einmal stehen. „Mach dich übrigens auf einiges gefaßt", warnte er sie.
„Ich ... ich verstehe nicht, was du meinst."
„Fairhaven hat aller Welt erzählt, daß Philip nicht mein Vater ist."
Anne sah ihn entsetzt an.
„Man wird versuchen, mich in Stücke zu zerreißen - und dich vielleicht mit." Er ging weiter zur Tür.
Anne sah ihm besorgt nach. Sie wußte aus eigener Erfahrung, wie grausam der Klatsch sein konnte. Aber diesmal würde Dominick das Opfer sein und nicht sie. Das Herz wurde ihr schwer bei dem Gedanken, und sie fühlte Mitleid mit ihm, als hätte es ihren Verdacht und seine Täuschungen nie gegeben. „Tu dir das nicht an", flüsterte sie, doch sie begriff, weshalb sie den Ball gemeinsam besuchen mußten.
Dominick war schon an der Tür. Ohne sich noch einmal
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