010 - Skandal in Waverly Hall
hin und her. Seinen Whisky hatte er bisher nicht angerührt. Es gab noch einen Grund, weshalb er allein in der Halle saß und grübelte. Ihm war schmerzlich bewußt, daß die idyllische Zeit mit Anne in Schottland in fünf Tagen zu Ende ging. Dann mußten sie nach Waverly Hall zurück.
Er war sich immer noch nicht sicher, wie Annes Antwort lauten würde.
Dominick stand auf und trat so nahe an das Feuer, daß ihn die Flammen beinahe versengten. Ohne auf die Gefahr zu achten, starrte er blindlings in die Glut.
Er hatte so etwas nicht erwartet, nicht im Traum, weder Annes noch seine eigene leidenschaftliche Reaktion. Mit jeder Minute, die sie gemeinsam verbrachten, beschäftigte er sich mehr mit dieser Frau, die ihn so in ihren Bann geschlagen hatte.
Was war mit ihm los?
Sein Leben lang hatte er es vermieden, eine tiefere Beziehung einzugehen. Von Jugend an war er entschlossen gewesen, gefühlsmäßig unabhängig zu bleiben.
Wenn er sich an niemanden band, konnte man ihm auch nicht weh tun. Das hatte er schon in jungen Jahren erfahren. Erwachsen zu werden war eine schmerzliche Angelegenheit gewesen.
Trotzdem war es jetzt passiert. Er war nahe daran, richtig besessen von Anne zu sein.
Dabei war sie aus einem einzigen Grund mit ihm nach Ta-valon Castle gereist. Sie wollte ihren Teil des Abkommens erfüllen, damit er sie und Waverly Hall in einer Woche endgültig verließ.
Nein, jetzt wird sie mich gewiß nicht mehr auffordern, aus ihrem Leben zu verschwinden, überlegte Dominick. Zumindest war das ziemlich unwahrscheinlich.
Anne verzehrte sich inzwischen vor Leidenschaft nach ihm, und sie war eine sehr sinnliche Frau. Andererseits besaß sie einen starken Willen und war äußerst entschlossen. Er hatte sie vor vier Jahren verlassen. Damals war sie jung und sehr verliebt in ihn gewesen. Er wäre ein Narr, wenn er seinen Erfolg als selbstverständlich betrachtete. Es gab immer noch die Möglichkeit, daß sie ihn am Ende zurückwies, sosehr er das Gegenteil wünschte.
Wenn Anne ihn aufforderte zu gehen, würde genau das eintreten, was er als Erwachsener sein Leben lang erfolgreich verhindert hatte: herzzerreißender Liebeskummer.
Der Vollmond schien hell ins Zimmer, als Anne erwachte. Sie blinzelte verblüfft und stellte fest, daß sie allein im Bett
lag. Das Feuer im Kamin war zu Glutasche zusammengefallen. Die Vorhänge waren geöffnet. Unzählige Sterne funkelten am nachtschwarzen Himmel.
Wo war Dominick?
Anne reckte sich und merkte, daß sie splitternackt unter den schweren Decken war.
Versonnen lächelte sie vor sich hin. Eigentlich sollte sie sich schämen, daß sie so herrlich verrucht war und sich wunderbar befriedigt fühlte. Offensichtlich steckte eine wollüstige, heißblütige Frau unter ihrer kühlen damenhaften Schale.
Die Vorhänge bauschten sich leicht in der Brise.
Anne bemerkte eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Sie erschrak und hatte das Gefühl, jemand stünde in der hinteren Ecke des Zimmers.
„Dominick?" rief sie.
Es kam keine Antwort.
Nein, da war doch niemand. Unbehaglich zog Anne die Decke bis zum Hals hinauf.
Vielleicht hatte sie geträumt. Andererseits ... „Dominick?" rief sie erneut.
Wieder kam keine Antwort.
Annes Puls begann zu rasen. Wahrscheinlich wünschte sie derart, Dominick wäre bei ihr, daß sie sich einbildete, er wäre irgendwo im Zimmer. Besorgt erinnerte sie sich an Beiles Angst vor Gespenstern. Ein kalter Luftzug streifte ihre Hand, mit der sie die Decke hielt.
Sie fuhr in die Höhe und starrte auf die raschelnden Vorhänge. Das Fenster stand einen Spalt offen. Sie hätte schwören können, daß es geschlossen gewesen war, als sie zu Bett gingen. Die Nächte in Schottland waren viel zu kühl, um bei geöffnetem Fenster zu schlafen.
Anne schlüpfte aus dem Bett und wurde sich plötzlich ihrer Nacktheit bewußt. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper. Sie tastete nach ihrem dünnen Morgenrock und schlüpfte hinein. Die Seide hielt die Kälte kaum ab. Rasch überquerte sie den Steinboden und verriegelte das Fenster. Auf dem Nachttisch fand sie eine Kerze und zündete sie an. Sie unterdrückte das Bedürfnis, in die dunkle Ecke hinter sich zu schauen, und verließ das Zimmer sofort mit eiligen Schritten.
Wie still es nachts in der Burg war. Ob Belle recht hatte und es hier tatsächlich spukte?
Anne glaubte nicht an Geister. Trotzdem überlief es sie eiskalt, und sie eilte zur Treppe. Sie war allein im ersten Stock. Die Bediensteten schliefen eine Etage
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