010 - Skandal in Waverly Hall
Thema wäre erledigt. Du hast geträumt, daß du das Fenster geschlossen hast. Das ist die einzige Erklärung." Er lächelte liebevoll.
„Niemand kann Tavalon Castle nach Einbruch der Dunkelheit betreten, es sei denn, du glaubst an Gespenster."
Anne nickte unbehaglich. Vielleicht war es ja ein Gespenst gewesen. Doch sie war sich nicht sicher.
Sie aßen herzhafte schottische Spezialitäten und frischen Lachs, dazu tranken sie selbstgebrautes Bier, da es keinen Wein gab. Nach der üppigen Mahlzeit waren sie so gesättigt, daß sie auf einen Nachtisch verzichteten.
Dominick lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah sie mit seinen topasfarbenen Augen liebevoll an. Das tat er schon den ganzen Tag. Nie zuvor hatte Anne sich einem Menschen so nahe gefühlt. Jemanden zu lieben und wiedergeliebt zu werden war einfach wunderbar.
Ihr graute vor der Rückkehr nach Waverly Hall.
Dominick beugte sich vor. „In zwei Tagen müssen wir wieder heim, Anne."
Er dachte also ebenfalls daran. Anne straffte sich innerlich. „Ja."
Sein Lächeln erstarb, und er faßte ihre beiden Hände. „Es war eine sehr schöne Zeit."
Anne wollte die Unterhaltung nicht fortsetzen und nicht an die Zukunft denken.
Nicht jetzt. Ihnen blieben noch zwei volle Tage. „Ja, es war eine sehr schöne Zeit", sagte sie unsicher und wandte sich ab.
Er sprach nicht weiter.
Sie blickte verstohlen auf. Dominick hatte seine Hände zu-rückgezogen und betrachtete eingehend seine Finger. Hatte er eine aufschlußreichere Antwort von ihr erwartet?
Plötzlich verabscheute Anne Waverly Hall und die ganze Vergangenheit. Sie mochte nicht mehr daran erinnert werden. Ihr Leben sollte so weitergehen wie bisher, mit allen Einzelheiten. Sie wollte nicht heim und wieder die vernünftige, Willensstärke Anne werden, jene Frau, die imstande war, Dominick St. Georges davonzuschicken.
Sie wollte die neu entdeckte Anne bleiben - feurig und leidenschaftlich, weiblich und liebevoll.
Was sollte sie nur tun?
Dominick hob den Kopf. „Wir müssen darüber reden, Anne."
Verzweiflung erfaßte sie. „Also gut.
Er zögerte einen Moment. „Was wirst du tun?"
Er sah sie eindringlich an, und Anne erinnerte sich, wie er sie heute morgen in den Armen gehalten hatte, nachdem sie sich erneut geliebt hatten. All die Tage hatte Dominick sie mit einer unglaublichen Wärme betrachtet - mit Wärme und vielleicht auch mit echter Zuneigung oder sogar Liebe.
Ihr Puls beschleunigte sich. Sie konnte diesen Mann unmöglich wieder fortschicken.
Nicht wenn sie ihn so sehr liebte und sie auf der Schwelle zu etwas Wunderbarem, äußerst Erregendem standen. Nicht wenn sie eine echte Chance für eine gemeinsame Zukunft hatten.
Andererseits waren vier Jahre eine lange Zeit.
„Anne?" fragte Dominick sehr ernst.
Sie blinzelte, um die Tränen in ihren Augen zu vertreiben. „Wenn ich nur einen Funken Verstand besäße, würde ich dich fortschicken", erklärte sie leise.
„Aber?"
Sie zitterte am ganzen Körper. „Ich möchte dich nicht wegschicken, Dominick.
Weder jetzt noch später."
Ein triumphierendes Lächeln glitt über sein Gesicht. Er griff über den Tisch und faßte glücklich ihre Hand. „Anne!"
Sie schüttelte den Kopf, und ihr wurde ganz elend angesichts der gewaltigen Tragweite ihrer Entscheidung. „Hör auf, Dominick. Ich kann dir noch keine endgültige Antwort geben. Ich habe dir nur gesagt, was ich empfinde."
Fassungslos sah er sie an, und die Glut in seinen Augen erlosch. „Verstehe."
Seine Enttäuschung war unübersehbar. Anne hielt seine Hand fest und drückte sie. Wie gern hätte sie Dominick gestanden, daß sie ihn liebte. Die Worte lagen ihr auf der Zunge. Doch die vier einsamen Jahre hatten sie vorsichtig gemacht, auch die Tatsache, daß Dominick nie von Liebe zu ihr gesprochen hatte.
Er lächelte gequält. „Dann muß ich mir wohl noch etwas mehr Mühe geben, um dich zu überzeugen, daß du die Vergangenheit endlich ruhen lassen solltest", sagte er leichthin.
Anne entspannte sich. „Nichts spricht dagegen, daß es dir gelingt", antwortete sie leise und streichelte mit den Fingerspitzen seine Hand. Dominick sollte wissen, was sie empfand, auch wenn sie es nicht mit Worten ausdrücken konnte.
„Dann laß uns nach Hause gehen", sagte er und gab dem Wirt ein Zeichen.
Trotzdem hatte sich etwas verändert. Die Zukunft lauerte bereits, sie spürten es alle beide.
Die Kutsche von Waverly Hall hatte Dominick und Anne vor einer Stunde vom Bahnhof in Dulton
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