010 - Skandal in Waverly Hall
höher.
Vor der obersten Stufe blieb sie stehen und warf einen Blick über die Schulter zurück. Auf dem Korridor hinter ihr war alles ruhig und dunkel.
Ihre nackten Füße machten kein Geräusch auf dem Steinboden, als sie die alte Treppe hinabstieg. Auf dem Absatz hielt sie inne und blickte in die Halle.
Dominick stand vor dem Kamin und starrte ins Feuer. Sie sah sein Gesicht von der Seite. Er trug seine Wildlederhose und einen Hausrock aus flaschengrünem Samt.
Wie gut er aussah! Sie hielt die Luft an beim Anblick seiner erstaunlichen männlichen Schönheit.
Trotzdem stimmte etwas nicht. Er schien bedrückt. Anne wagte sich nicht näher.
Dominick war tief in Gedanken versunken und wirkte ziemlich unglücklich.
Wie war das möglich? Sie hatten einen wunderbaren Nachmittag verbracht, und er hatte sich wie ein verliebter junger Mann verhalten. Hatte sie ihn nicht genügend befriedigen können? Oder war er sie jetzt schon leid?
Anne wurde das Herz schwer.
Dominick wandte den Kopf und sah zu ihr hinauf. „Anne!"
Ihr war nicht klargewesen, daß er ihre Anwesenheit bemerkt hatte. Zögernd, beinahe ängstlich trat sie näher und fragte so unbekümmert wie möglich: „Kannst du nicht schlafen?"
Er betrachtete sie eindringlich. „Nein."
Annes scheues Lächeln erstarb. Irgend etwas beunruhigte Dominick. Doch sie hatte zu große Angst, um ihn zu fragen, worum es ging. „Kann ich etwas für dich tun?"
Er ließ sie nicht aus den Augen. „Nein."
Anne schluckte. „Möchtest du lieber allein sein. Dominick?"
Sein Blick wurde weich, und er verzog ein wenig die Lippen. „Ich komme in ein paar Minuten nach oben."
Anne nickte unbehaglich. Plötzlich senkte Dominick den Kopf und küßte sie zärtlich auf den Mund. Sie lächelte erleichtert über das kleine Anzeichen von Zuneigung, eilte die kalten Stufen wieder hinauf und kehrte in ihr unheimlich erscheinendes Schlafzimmer zurück.
Rasch kletterte sie ins Bett und blies die Kerze aus.
Nun war sie es, die nicht einschlafen konnte. Anne drehte sich auf die Seite, umarmte ihr Kissen und horchte auf Do-minicks Schritte.
Sie wartete auf ihn und sehnte sich nach ihm.
Plötzlich erkannte sie das Ausmaß ihrer Leidenschaft für diesen Mann. Sie erschrak heftig und drückte das Kissen fest an die Brust. Erst zwei Tage hatte sie mit Dominick verbracht und benahm sich schon wie ein verliebtes Schulmädchen.
Sie war gefährlich nahe daran, sich mit Haut und Haaren in Dominick zu verlieben -
mehr noch als damals mit siebzehn Jahren.
Die letzten Reste ihres Glücksgefühls verschwanden. Wie sollte sie sich nicht in Dominick verlieben? Er war genau der Mann, von dem jede Frau träumte. Er sah gut aus, war charmant und besaß eine faszinierende Ausstrahlung. Einerseits war er außerordentlich kraftvoll und männlich und konnte andererseits unwahrscheinlich zärtlich sein. Außerdem trug er einen hohen Adelstitel und war sehr reich.
Annes Augen füllten sich mit Tränen. Vor vier Jahren, als er sie geheiratet und unmittelbar darauf wieder verlassen hatte, war Dominick durchaus nicht zärtlich oder fürsorglich gewesen.
Sie waren erst zwei Tage hier, und trotzdem begehrte sie ihn verzweifelt, zumindest körperlich. Was würde erst in fünf Tagen sein, wenn sie nach Waverly Hall zurückkehrten?
Anne begann zu zittern. Sie überlegte, ob Dominick recht hatte. Vielleicht wollte sie am Ende dieser Woche tatsächlich nicht mehr, daß er ging. Vielleicht hatte sie wider besseres Wissen nicht mehr die Kraft, ihn von Waverly Hall fortzuschicken. Vielleicht würde sie ihn statt dessen bitten, bei ihr zu bleiben.
Dominick betrat das Zimmer, und Anne zuckte zusammen. Keuchend fuhr sie in die Höhe und zog die Decke bis zum Hals hinauf.
„Bitte entschuldige." Er hielt eine Kerze in der Hand, deren Flamme wild zuckte. „Ich hatte dich nicht erschrecken wollen."
„Es ist alles in Ordnung", antwortete Anne und betrachtete das Licht. Ein seltsames Unbehagen erfaßte sie, das sie nicht erklären konnte. Etwas stimmte hier nicht. Plötzlich ging die Kerze aus.
Dominick kam nicht zum Bett, um sie in die Arme zu nehmen, wie Anne es sich wünschte. Mit langen Schritten durchquerte er das Zimmer. „Weshalb hast du das Fenster geöffnet, Anne?" fragte er. „Es ist eiskalt hier drin. Du wirst dich erkälten."
Anne sah verblüfft zu ihm hinüber.
Das Fenster stand tatsächlich weit offen. Dominick schlug es mit einem lauten Schlag zu.
18. KAPITEL
Sie ritten auf den beiden
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