0103 - Ich - der Mörder Jerry Cotton
Angeklagten, seine Unschuld unter Beweis zu stellen. Die Anklage stützt sich im wesentlichen auf die Aussage des Rechtsanwalt Forest. Er behauptet, daß ein Augenzeuge ihm mitgeteilt habe, die Rossly hätte keine Waffe bei sich geführt, als sie die Feuertreppe herabkam. Bitte äußern Sie sich dazu, Mister Forest!«
Der Winkeladvokat stand auf.
»Meine Herren«, sagte er, »in unser aller Interesse werde ich mich kurz fassen: Vorgestern abend ging Mister Borty zusammen mit Miß Rossly ins Hallenbad in der 82. Straße. Anschließend brachte er die Dame nach Hause. Zwei oder drei Häuser vor dem Wohnblock, in dem Miß Rossly ihr Apartment hatte, verabschiedete sich Mister Borty von der Dame und suchte ein Lokal auf, das im Nachbarhaus liegt. Zufällig blickte er gerade durch ein Fenster, als Miß Rossly aus einem Fenster auf die Feuerleiter kletterte.«
»Einen Augenblick!« unterbrach Stevens. »Wie weit war der Abstand zwischen Fenster und der Feuerleiter?« Forest beugte sich nieder zu Borty und flüsterte mit ihm, nach einer Weile richtete er sich wieder auf und sagte: »Höchstens zehn bis zwölf Yards. Mein Mandant konnte deutlich sehen, daß Miß Rossly völlig unbewaffnet war, als sie höchst eilig die Feuertreppe hinabstieg. Gleichzeitig kam aber von unten ein Mann herauf. Interessiert beobachtete mein Mandant, wie sich Miß Rossly von oben her und der Mann von unten her einander näherten. Als sie sich zum ersten Male erblickten, zuckten sie beide zurück. Der Mann hatte zu dieser Zeit schon seine Pistole in der Hand.«
»Soll das heißen«, fragte Stevens scharf, »daß der beobachtete Mann die Pistole schon in der Hand gehabt hat, bevor er die Rossly überhaupt zu Gesicht bekam?«
»Ja.«
Stevens wandte sich an mich.
»Stimmt es, Mister Cotton, daß Sie Ihre Pistole schon gezogen hatten, als Sie die Rossly noch gar nicht sehen konnten?«
Ich nickte.
»Ja. Ich zog meine Dienstpistole in dem Augenblick, als ich die Feuertreppe erklommen hatte.«
»Warum taten Sie das?«
Ich sah auf meine Fußspitzen. Wenn wir einen sechsfachen Mörder verhaften wollen, brauchen wir einen richterlichen Haftbefehl, dürfen den Kerl nicht anfassen und haben womöglich hinterher noch ein Dutzend Scherereien mit seinem Anwalt. Wenn aber ein Polizist einmal seine Pistole zieht, weil er keine Lust hat, vor seinem fünfundvierzigsten Lebensjahr schon beerdigt zu werden, dann muß er das dreimal begründen…
»Die Rossly hatte mindestens eine Pistole«, sagte ich knapp. »Wir wußten das. Und wir wußten, daß sie wöchentlich einmal auf einem Schießstand übte.«
Stevens nickte. Aber noch bevor er etwas sagen konnte, hatte Forest giftig gefaucht:
»Muß man gleich mit einer gezogenen Kanone herumrennen, wenn man weiß, daß jemand aus Liebhaberei den Schießsport betreibt?«
Stevens wandte den Kopf und rief scharf:
»Ich verbitte mir jede Einmischung in ein Disziplinarverfahren! Sie sind als Zeuge geladen, nicht als Beisitzer.«
So ging es eine ganze Weile weiter. Schließlich wurden alle anwesenden Kollegen vernommen. Es waren samt und sonders Kollegen, mit denen ich in diesem oder jenen Fall einmal zusammengearbeitet hatte. Sie bestätigten, daß sie mich nie übermäßig aufgeregt gesehen hätten, daß ich ganz und gar nicht zu den schießwütigen Leuten gehörte und ein Dutzend anderer hübscher Sachen. Phil lobte mich über den grünen Klee. Stevens hörte sich alles aufmerksam an. Dann kam man wieder auf die verschwundene Pistole zu sprechen.
Mister High beugte sich vor, sah mich aufmerksam an und fragte:
»Jerry, können Sie sich nicht vorstellen, daß Sie für den Bruchteil einer Sekunde einer Sinnestäuschung erlegen sind? Sie stiegen die Feuertreppe hinan. Sie wußten, daß es vielleicht mit der Rossly zu einer Schießerei kommen würde. Plötzlich stand sie Ihnen gegenüber. Ihre Nerven waren angespannt. Kann es nicht sein, daß Ihr Unterbewußtsein Ihnen nur für einen Sekundenbruchteil eine Pistole vorgespiegelt hat, wo in Wirklichkeit tatsächlich keine war?«
Er schwieg einen Augenblick, und da ich nichts sagte, fuhr er mit seiner gütigen Stimme fort:
»Das wäre eine durchaus begreifliche Situation. Jedem Menschen können die Nerven einmal einen Streich spielen. Noch dazu in einer solchen Lage, wie es diese nun einmal war, in der Sie sich befanden! Kein Gericht der Welt könnte Ihnen einen Mord anhängen, wenn es ein eindeutiges Versagen der Nerven war. Ich kann dem Gericht bestätigen, daß
Weitere Kostenlose Bücher