0104 - Wir und das Wachsfigurenkabinett
»Du hast Recht, wer sieht sich schon einen Eilboten genau an.«
»Ich überlege mir, was wir mit dem taubstummen Narren machen«, nahm ich das Wort. »Irgendwie muss doch etwas aus ihm herauszubekommen sein.«
Neville schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Hoffnungen. Wenn ich das nicht fertig bekommen habe, so glückt es euch auch nicht. Ich würde ihn vor Gericht stellen und wegen Mordversuchs anklagen lassen. Dann wird er für die nächsten paar Jahre aufgehoben.«
»Wenn sie ihn nicht zum Psychiater schicken«, meinte Phil, »und der ihn für unzurechnungsfähig erklärt. Dann kann es passieren, dass er wieder auf die Menschheit losgelassen wird.«
Jedenfalls wollten wir den Versuch machen.
Am nächsten Morgen um neun waren Phil und ich pünktlich im Felony Court, dem Gericht für schwere Verbrechen, von New York City. Der Felony Court, ist nur ein Zweig des Municipal Court, der ungeheueren Gesetzesmaschine, die die Rechtsprechung der Millionenstadt vereinfacht. Der Richter kann entscheiden, ob der Mann wirklich eines schweren Verbrechens schuldig ist und dem Schwurgericht übergeben werden muss oder er ihm selbst eine Strafe zudiktieren will. Natürlich kann er ihn auch freisprechen. Die Zuschauerbänke sind dicht besetzt, auf einer Estrade thront der Richter und neben ihm der Clerk, der die Anklage zu verlesen hat und sofort das Urteil ausfertigt. Sein Handwerkszeug besteht zum großen Teil aus Gummistempeln, die für jedes beliebige Vergehen oder Verbrechen vorrätig sind.
Die Bailiffs, die Gerichtsdiener, stehen umher und sorgen teils mit freundlichen Ermahnungen, teils recht handgreiflich, für Ordnung. Anwälte warten auf Kundschaft ebenso wie die gewerbsmäßigen Bürgen, die immer dann zur Stelle sind, wenn die Aussicht besteht, einen Verurteilten auf diese Art freizubekommen. Meistens geht es hier ziemlich gemütlich zu. »Seine Ehren« hat einen untrüglichen Blick dafür, wes Geistes Kind seine Kunden sind. Er kannte auch die Stammgäste, die ihm in gewissen Abständen immer wieder vorgeführt werden. Die schnell folgenden Verhandlungen rollen ab wie Kurzfilme - teils Dramen, teils Lustspiele.
Wir setzten uns und hörten zu. Gerade war ein ältliches Ehepaar an der Reihe.
»Er verprügelte mich jedes Mal, wenn er betrunken war«, klagte die Frau, »und gestern hätte er mich fast totgeschlagen.«
»Das hatte seinen guten Grund«, beschwerte sich ihr weißhaariger Ehemann. »Ich habe oben und unten falsche Zähne, und die versteckt sie mir, damit ich nicht ausgehen kann.« Er griff in den Mund, um seine Behauptung zu erhärten, aber der Richter winkte entsetzt ab.
»Irgendjemand muss ja auf die Kinder auf passen«, widersprach die Frau. »Ich gehe arbeiten.«
»Ja, warum gehen Sie denn arbeiten und kümmern sich nicht um Ihre Familie?«, fragte Seine Ehren und runzelte die Stirn.
Sie begann zu schluchzen und antwortete ganz zusammenhanglos.
»Er geht immer allein aus. Niemals nimmt er mich mit.« Und dann begannen sie sich zu streiten.
»Gehen Sie morgen zum, Familiengericht«, bestimmte der Richter, und da die Frau erklärte, dazu habe sie keine Zeit, wurde das-Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt.
So ging es noch eine Zeitlang weiter, bis Fred Norris vorgeführt wurde. Natürlich wusste niemand, dass er taubstumm war. Der Richter fragte ihn, redete ihm gut zu und schrie ihn an, bis wir es endlich geschafft hatten, uns durchzudrängen.
»Er ist taubstumm, Euer Ehren«, erklärte ich, »und er kann weder lesen noch schreiben.«
»Tja, was soll ich denn dann mit ihm anfangen?«
Ich berichtete von dem Überfall, und Phil bestätigte meine Aussage. Zum Beweis legte ich das Messer, das er nach mir geworfen hatte, auf den Tisch des Hauses. Der Richter überwies den Kleiderschrank der Staatsanwaltschaft zur weiteren Ermittlung. Das war genau das, was ich gewollt hatte.
»Soeben hat Lieutenant Crosswing angerufen«, war das erste, was ich hörte, als wir ins Office zurückkamen. Ich ließ mich mit ihm verbinden.
»Hello, Cotton, können Sie sich für eine halbe Stunde freimachen? Ich brauche sie.«
Ich konnte.
»Es handelt sich um einen gewissen Enrico Tullio, der in einer Mordsache verdächtig ist. Er beruft sich dabei auf einen Auftrag, den er von Pete Rovelli erhalten haben will, und da dachte ich…«
»Wo sind Sie?«, unterbrach ich ihn.
»In Second Avenue, 67, Hotel Plymouth.«
»Ich komme sofort.«
Das war also Tullio, den ich vergebens gesucht hatte, und Pete hatte
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