0105 - Keine Spur von Mister High
tagelang beobachtet haben, allein schon, weil man seine Gewohnheit, jeden Morgen um acht Uhr fünfundvierzig ins Office zu fahren, genau kannte und auch den Fahrer, der ihn abholte. Warum sollte man einen solchen Aufwand betreiben, wenn man sich an ihm rächen will? Man hätte ihm doch nur aufzulauern brauchen, wenn er morgens aus dem Haus kam. Ein paar schnelle Schüsse und bevor jemand in der Straße etwas gesehen hätte, wären die Täter mit ihrem Wagen schon verschwunden. Stattdessen trägt man die viel größeren Risiken einer Entführung. Das kann nur einen Grund haben: Man wollte sich nicht rächen an Mister High, sondern man brauchte ihn lebend. Als Geisel.«
Jack war blass geworden.
»Um Himmels willen, Jerry! Machen Sie mich nicht verrückt! Mister High als Geisel! Aber wofür denn?«
»Für das Verbrechen, auf das ich seither warte«, sagte ich hart. »Ich weiß nicht, was es sein wird, ich weiß nicht, wann und wo es geschehen wird, aber ich bin sicher, dass es kommen wird. Und da mir die Entführung des Chefs keine ausreichenden Spuren gelassen hat, warte ich auf dieses Verbrechen, für das man Mister High als Geisel gebrauchen will. Vielleicht bekomme ich dadurch mehr Spuren.«
Stone schlürfte den Rest seines Kaffees.
»Das ist entsetzlich«, sagte er. »Auf etwas zu warten, was irgendwelchen Menschen Unglück, vielleicht sogar den Tod bringen wird, und trotzdem nichts dagegen tun zu können…«
Ich nickte. Schon den ganzen Vormittag über hatte ich mir den Kopf zerbrochen, ob man nicht irgendwie vorausberechnen könnte, wo der entscheidende Schlag erfolgen würde. Aber es konnte sich um Rauschgift, um einen Banküberfall, um sonst etwas handeln. Wie sollte man es voraussehen können, wenn man kein Hellseher war?
»Ich werde…«, sagte ich, wurde aber unterbrochen.
Der Kantinenpächter rief laut: »Hallo, Mister Stone! Schnell! Dringender Ruf der Zentrale!«
Jack sprang auf und eilte zum Telefon. Ich drehte mich um und sah zu ihm. Er sagte irgendetwas und lauschte.
Sein Gesicht verzog sich. Er winkte mir aufgeregt. Ich ließ alles stehen und liegen und lief zu ihm hin.
Er legte gerade den Hörer aus der Hand.
»Ich«, stieß er heiser hervor, »ich glaube, wir haben die Sache, auf die Sie warten, Jerry.«
»Und zwar?«, fragte ich gespannt.
Jack wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Kennen Sie den Börsenkönig Marley, Jerry?«
»Dem Namen nach. Wer kennt ihn nicht? Soll einige Hundert Millionen schwer sein, sagt man. Was ist mit ihm?«
»Er hat ein Kind, einen vierjährigen Sohn. Michel, kurz Mike genannt. Der Junge wurde vor ungefähr einer halben Stunde entführt…«
***
Die Zigarettenpackung fiel mir aus der Hand. Kindesentführung! Das schwerste Verbrechen, das wir in den Staaten kennen. Und leider auch das schwerste für die Polizei. Nirgends ist man so gebunden wie bei einer Kindesentführung. Nichts kann man unternehmen, ohne sich nicht vorher fragen zu müssen: Gefährdest du das Kind auch nicht…?
»Verdammter Dreck«, murmelte ich. »Jede andere Sache wäre mir lieber gewesen.«
Jack stöhnte.
»Diese verfluchten Halunken«, sagte er. »Ausgerechnet an einem wehrlosen Kind müssen sie sich vergreifen. Jerry, glauben Sie, dass es dieses Verbrechen ist, wozu man Mister High als Geisel verwenden will?«
»Zweifellos. Alles passt zusammen. Wer die eine Entführung macht, kann auch eine zweite inszenieren. Und sie wissen genau, dass auf Kindesentführung erbarmungslos die Todesstrafe steht. Außerdem wissen sie, dass das FBI nicht ruhen wird, bevor es das Kind nicht in Sicherheit weiß. Und dann wird das FBI sie hetzen bis ans Ende der Welt. Um sich dagegen zu sichern, haben sie sich Mister High als Geisel geholt. Nach dem Motto: Zahlt die Familie soundsoviel, kriegt sie das Kind wieder. Lässt uns das FBI in Ruhe, kriegen sie ihren New Yorker Boss wieder. Gar nicht mal so übel ausgerechnet…«
»Ja«, stimmte Jack zu. »Nur werden wir uns auf ein solches Geschäft nicht einlassen können.«
»Natürlich nicht, Jack. In solchen Situationen zählt das Leben eines Polizisten überhaupt nichts mehr. Und ich bin sicher, dass Mister High über sich selbst die gleiche Entscheidung treffen wird. Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich nicht alles versuchen werde, ihn herauszuholen, Jack. Ich verspreche Ihnen, Jack, wenn ich einen dieser Halunken in die Finger bekomme, wird er mir den Ort verraten, wo ich unseren Chef abholen kann. Darauf können Sie Gift
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