0106 - Hügel der Gehenkten
konnte es kaum glauben. Wenigstens sah sein Gesicht so aus.
»Erklären Sie mir das bitte, Saffi!«
Sie schaute mich an, und ihre Augenbrauen wuchsen zusammen.
»Warum soll ich Ihnen das sagen?« fragte sie. »Ich kenne Sie gar nicht. Sie haben mich vor einem schlimmen Schicksal bewahrt, und dafür danke ich Ihnen. Aber so…«
Für mich war es an der Zeit, eine Erklärung abzugeben. »Mein Name ist John Sinclair«, stellte ich mich vor und machte Saffi auch mit Bill Conolly bekannt. »Wir sind rein zufällig hier vorbeigekommen, weil ich eine Reifenpanne hatte. Wir haben die Schreie gehört und sind aufgeschreckt worden.« Ich holte tief Luft und hoffte, daß sie mir die nächsten Worte abnahm. »Von Beruf bin ich Polizeibeamter und jage, das wird für Sie seltsam klingen, Geister und Dämonen. Es ist mein Job, Existenzen wie diesen Henker oder auch Ihren Vater zu stellen.«
»Wirklich?« hauchte sie.
Ich nickte.
Das Girl überlegte. Anscheinend dachte sie darüber nach, ob sie mir trauen konnte.
»Ich habe Sie nicht angelogen«, sagte ich.
»Mir bleibt keine andere Wahl«, flüsterte sie.
»Dann erzählen Sie mir etwas über Ihren Vater.«
»Er ist ein Schamane«, erklärte sie. »Er hat vor vierhundert Jahren schon einmal in dieser Gegend gelebt. Damals ist er getötet worden, aber er wurde wiedergeboren, um grausame Rache zu nehmen, an den Nachkommen der Menschen, die ihn damals töteten. Das ist an und für sich die ganze Geschichte.«
»Und welche Rolle spielt der Henker?«
Saffi hob die Schultern. »Ich weiß nur, daß er Destero heißt. Mein Vater hat mir oft von ihm erzählt. Ich habe die Geschichten nur nicht geglaubt.«
Das konnte ich mir gut vorstellen. Vielleicht war Saffi noch ein Kind gewesen, als sie die Erzählungen hörte. Nun aber hatte sie am eigenen Leibe die Schrecken gespürt.
Ich fragte sie nach ihrer Mutter.
»Sie ist früh gestorben«, lautete die Antwort. »Damals war ich knapp vier Jahre alt.«
»Dann haben Sie keine Erinnerung mehr an sie?«
»Nein.«
»Wie ist sie ums Leben gekommen?« erkundigte ich mich. »Auf natürliche Weise?«
»Ja. Damals kannte ich die Krankheit noch nicht. Heute weiß ich, daß man sie Krebs nennt.«
»Könnten Sie mir nicht mehr über Ihren Vater erzählen und über seine Rache?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht viel. Mein Vater und ich sind durch die Lande gezogen. Unruhig und unstet. Meist wurden wir verfolgt und gedemütigt, aber das hat Vater nichts ausgemacht. Er sagte nur immer: Abwarten, Kind, die Zeit der Rache kommt noch. Und dann erzählte er von den alten Zeiten.«
Jetzt war die Zeit der Rache da.
Tullverine, vielmehr die Bewohner des Ortes, sollten darunter leiden.
Das mußte ich verhindern, denn ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie gegen den Schamanen und Destero ankamen. Die beiden waren ein höllisches Tandem und einfach zu mächtig.
»Außerdem war mein Vater blind«, sprach Saffi weiter.
»Wirklich blind oder nur für die Menschen?«
»Für die Menschen. Er hatte auch keine normalen Augen, sondern blaue Kristalle.«
»Und damit konnte er sehen?« fragte Bill Conolly erstaunt. Bisher hatte er dem Dialog schweigend gelauscht.
»Ja, das ging.«
Bill lachte hart auf. »Sagenhaft.«
Ich fragte Saffi danach, wie sie sich ihre weitere Zukunft vorstellte.
Sie hob die Schultern. »Es ist alles so einsam, wo er nicht mehr da ist.«
»Sie meinen den jungen Mann?«
»Natürlich. Meinen Vater, den habe ich bereits vergessen.« Wild warf sie den Kopf in den Nacken. »Nein, noch nicht vergessen. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn so sehr, daß ich mit ihm das gleiche versuchen würde, was er mit mir getan hat.«
Ich faßte nach ihrer Schulter und drehte Saffi so, daß sie mir ins Gesicht schauen mußte. »Vergessen Sie Ihren Haß«, redete ich auf sie ein. »Man darf und soll nicht gleiches mit gleichem vergelten. Reißen Sie sich zusammen. Wenn einer Ihren Vater stellen kann, dann sind mein Freund Bill Conolly und ich es.«
»Er ist zu stark.«
»Wir werden sehen.«
»Wo treibt er sich eigentlich herum?« fragte Bill Conolly. »Als wir hier ankamen, war er ebenso verschwunden wie Destero.«
Saffi hob die Schultern. »Genau weiß ich es nicht. Ich glaube aber, eine Nebelwolke gesehen zu haben, die beide verschlungen hat. Ebenso plötzlich ist auch der Galgen entstanden, wie ich gesehen habe.«
Eine Lösung für dieses Problem zu finden, war meiner Ansicht nach zweitrangig. Erst einmal mußten wir die
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