0107 - Die Bestie von Manhattan
zu.
»Treppensteigen!«, stöhnte Phil in Anbetracht der Tatsache, dass eine neunte Etage ohne Fahrstuhl auf uns wartete.
Ausnahmsweise gab ich ihm recht.
Wir stampften die Treppen hinauf. Als wir endlich die fünfte hinter uns hatten, verschnauften wir erst einmal.
»Man sollte jedes Haus abbrechen, das keinen Fahrstuhl hat«, knurrte Phil. »So was ist ein glattes Verbrechen gegen die Menschlichkeit.«
Ich nickte nur. Neun ausgetretene Steintreppen sind wahrhaftig keine Freude für einen Menschen, der an Fahrstühle und Lifts gewöhnt ist.
Aber endlich hatten wir es geschafft.
Vor Miss Lorcins Tür stand ein kleiner Junge und sah uns neugierig entgegen.
»Wollen Sie zu Miss Lorcin?«, fragte er.
»Allerdings, Mister«, nickte Phil und zog den Hut. »Warum?«
Der Kleine stemmte seine Faust in die Hüfte und schüttelte den Kopf: »So etwas! Sie ist nicht da! Dabei hatte sie mir versprochen, heute Mittag meine Rechenarbeit anzusehen! Weil ich doch mit ihr gewettet hatte!«
Wir sahen uns an.
»Komisch!«, brummte Phil.
Ich presste die Lippen zusammen. Sie hatte extra gesagt, dass sie zu Hause sein würde. Außerdem lag ihr doch bestimmt etwas an der neuen Stellung.
»Verstehst du das?«, fragte Phil nach einem kurzen Schweigen.
Ich schüttelte den Kopf. Dabei warf ich einen Blick auf den kleinen Jungen. Phil nickte. Er hatte verstanden.
»Wir werden halt ein bisschen warten«, meinte Phil und setzte sich auf die Treppe. Ich ließ mich neben ihm nieder.
»Das ist eine gute Idee!«, rief der Boy und tat es uns nach.
Ich musste unwillkürlich grinsen, obgleich wir ja nur darauf warteten, dass der Kleine verschwand.
Seine Mutter nahm uns diese Sorge ab. Denn wir hatten bestimmt noch keine zwei Minuten auf der Treppe gesessen, da rief weiter unten im Treppenhaus eine helle weibliche Stimme: »Joe! Hallo, Joe!«
Der Kleine wurde lebhaft. »Ja, Mutti?«
»Komm schnell! Das Essen ist fertig!«
»Okay!«
Er wandte sich uns zu und sagte: »Wenn Sie Miss Lorcin noch sehen sollten, sagen Sie ihr bitte, ich komme heute Abend mal rauf.«
»Wird gemacht, Mister Joe!«, sagte Phil mit ernstem Gesicht und indem er seinen Hut zog.
Wir warteten, bis der Junge zwei Treppen weiter unten war und uns nicht mehr sehen konnte.
Dann stand Phil auch schon mit seinem Spezialdietrich vor dem Schloss. Er schaffte es im Handumdrehen. Vermutlich war es eines der billigen Dutzendschlösser aus einem Warenhaus, wobei jedes Mal ein Schlüssel zu fünfzig verschiedenen Schlössern passt.
Wir betraten das kleine Zimmer, das wir nun schon kannten. Der angenehme Duft gebratenen Geflügels schwebte uns entgegen.
Dicht hinter der Tür lag ein Briefumschlag auf dem Fußboden. Ich hob ihn auf und musterte ihn kurz.
»Warenhausreklame.«
Ich legte den Brief auf den Tisch.
Wir sahen uns flüchtig um. Phil nahm sich die linke, ich die rechte Seite des Zimmers vor. Es war nicht etwa eine Hausdurchsuchung, die wir Vornahmen, und dass Wir nicht dazu ermächtigt waren, wussten wir wohl.
Ich stieß auf den Küchenherd, der mehr nach einer elektrotechnischen Maschine aussah, als nach einem gewöhnlichen Herd. Es gab eine ziemlich große Zahl von Schaltknöpfen und Skalen für Temperaturen und Zeiteinstellungen.
Ich zog eine Klappe auf und sah ein Hühnchen brutzeln. Der köstliche Duft stieg einem in die Nase. Offenbar wurde es hier servierfertig gehalten.
Entweder war etwas passiert, oder sie würde noch kommen. Dass sie sich das Mittagessen servierfertig halten ließ, bewies, dass sie mit dem Nachhausekommen rechnete.
Ich überflog weiter die Gegenstände. Als ich mit Phil zusammenstieß, sagte ich: »Sie wollte nach Hause kommen. Darüber kann es keinen Zweifel geben. Sieh dir das an!«
Ich zog die Klappe auf und ließ ihn einen Blick auf das brutzelnde Hähnchen tun.
Phil nickte. Er hob einen kleinen Bilderrahmen hoch: »Und sieh dir das an!«
Ich warf einen kurzen Blick darauf. Es war ein Foto von Postkartengröße. Auf dem weißen Streifen am unteren Rand des Bildes stand Mein George. Offensichtlich hatte das Mädchen selbst diesen Text darunter geschrieben.
»Das zeigt uns zwar den jungen Mann, der sie in Schwierigkeiten gebracht hat, hilft uns aber jetzt nicht weiter«, sagte ich. »Wo ist sie?«
Phil zuckte die Achseln. Er stellte das Bild zurück auf den Nachttisch und brummte: »Vielleicht muss sie Überstunden machen?«
»Das wäre noch eine Möglichkeit. Komm, wir fahren zu der Tankstelle. Ich habe ohnehin für
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