0107 - Die Geier und der Wertiger
genügte, um McClure erkennen zu lassen, daß er einen Todfeind vor sich hatte.
Was war geschehen?
McClure erinnerte sich an die prachtvolle Blüte, die van Dyke in ihren Bann geschlagen hatte.
Seither war William verändert.
McClure hatte die Absicht gehabt, auf das Totengerüst hinaufzuklettern, doch van Dyke hatte es ihm verboten.
Warum? Beschützten jetzt nicht nur die Geier, sondern auch van Dyke den dürren Greis, der dort oben lag?
Unwillkürlich schaute Harald McClure zu dem unheimlichen Weißhaarigen hinauf. Er vermeinte, eine Vision zu haben.
Der Greis teilte sich auf eine rätselhafte Weise. Er blieb auf dem Rost liegen, richtete sich gleichzeitig aber auch auf.
McClure sah den Alten zweimal. Liegend und stehend.
Der Unheimliche starrte Harald McClure feindselig an. Er verließ den Turm, schwebte wie ein Geist herab, näherte sich jedoch nicht McClure, sondern William van Dyke.
Nur wenige Augenblicke dauerte diese Vision. Danach war der zweite Greis – jener, der herabgeschwebt war – verschwunden.
McClure fragte sich, ob der Geist des Alten in van Dykes Körper eingetaucht war. Möglich war in diesem Todeskessel alles.
Vorbei war es mit McClures unbeugsamem Optimismus. Er begriff endlich, daß er zuviel gewagt hatte.
Van Dyke war diese Exkursion bereits zum Verhängnis geworden. Er war nicht mehr er selbst.
McClure musterte ihn. Die Haut des Kollegen begann plötzlich zu schillern und wurde genauso farbenprächtig wie jener Blütenkelch, vor dem er so lange gestanden hatte.
Drohte William van Dyke zur Pflanze zu werden?
Erschreckend sah er aus.
»William, ich denke, wir sollten so rasch wie möglich den Rückzug antreten«, sagte McClure mit belegter Stimme. »Der Aufenthalt in diesem Kessel ist zu gefährlich und tut vor allem dir nicht gut. Du solltest dich sehen…«
»Ich gehe von hier nicht fort.«
»William…«
»Ich gehöre hierher. Zwischen den Pflanzen und mir besteht eine Symbiose…«
»O mein Gott!«
»Auch du wirst dieses Treibhaus des Bösen nicht verlassen, Harald!«
»Du wirst mich nicht daran hindern!«
»Doch!« William van Dyke richtete seinen Colt Commander auf McClure.
Ehe van Dyke abdrücken konnte, stürzte sich McClure auf ihn.
Mit der Handkante traf er den Pistolenarm des Kollegen. Van Dykes Fingern entfiel die Waffe. McClure kickte sie fort. Sein Kollege lachte gehässig. »Das rettet dich auch nicht, Harald. Du bist verloren. Dein Leben kriegen die Geier oder die Pflanzen!«
In geduckter Haltung näherte sich van Dyke dem einstigen Freund.
»Bleib mir vom Leib!« stieß McClure nervös hervor. »Wenn du mich angreifst, bringe ich dich um!«
William van Dyke kicherte. »Nicht ich werde sterben, sondern du!« Er blieb nicht stehen.
McClure wich vor ihm zurück, die Fäuste zur Abwehr erhoben.
Keine Sekunde ließ er van Dyke aus den Augen.
Er dachte, das sei wichtig, dabei wäre es viel wichtiger gewesen, sich umzudrehen, denn dort lauerte die echte Gefahr auf Harald McClure.
Eine der Pflanzen breitete ihr Geäst zitternd vor Gier wie Fangarme aus. Darauf trieb William van Dyke den Kollegen zu, ohne daß dieser es ahnte.
Die Blüte hoch oben glich einem flammenden Stern, hatte aber auch Ähnlichkeit mit einem weit aufgerissenen Höllenrachen, der von langen, spitzen Zähnen umgeben war.
»William, zwing mich nicht zum Äußersten!« warnte McClure heiser.
»Du ahnst nicht, wie nahe du dem Tod schon bist!«
»Noch bin ich in der Lage, mich zu verteidigen!« schrie McClure.
Er riß die Commander heraus.
Im selben Moment machte van Dyke einen schnellen Schritt auf den Kollegen zu. Einem Reflex gehorchend, wich McClure ebensoschnell zurück.
Genau das hatte van Dyke erreichen wollen.
Dick glänzte der Schweiß auf dem Gesicht des rothaarigen Ritualforschers.
»Stop!« blaffte er und zielte mit der Pistole auf die Brust des verwandelten Kollegen.
Da passierte es.
McClure befand sich in Reichweite der pflanzlichen Fangarme.
Sie schnellten mit ungeheurer Wucht auf ihn zu. Wie Peitschenenden pfiffen sie durch die Luft.
Überall trafen sie ihn, ringelten sich um seinen Brustkorb, um seine Arme, um die Beine, um Kopf und Hals.
Er schrie entsetzt auf, während van Dyke ein hohntriefendes Gelächter ausstieß.
Die Pflanze zerrte ihn zurück. Er stemmte sich dagegen, war jedoch nicht stark genug, um ihr zu widerstehen. Immer mehr Fangarme krochen über seinen Leib.
Er verstrickte sich rettungslos zwischen ihnen. Dennoch gab er nicht auf. Er
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