0107 - Die Geier und der Wertiger
wenn sie einen neuen Mann kennenlernte.
Bisher hatte sie sich schon am Beginn jeder neuen Bekanntschaft gesagt: Sieh dich vor – im Grunde genommen sind sie alle gleich.
Und dann hatte sie abgeschaltet und dafür gesorgt, daß Eiswasser durch ihre Adern floß.
Doch bei John Sinclair war das zum erstenmal nach fünf Jahren nicht mehr der Fall.
Sie glaubte zu wissen, daß er nicht so war wie die andern. John Sinclair war in ihren Augen etwas Besonderes, und wenn er Interesse an ihr hatte, würde er von ihr ganz bestimmt keinen Korb bekommen.
Gedankenverloren betrat Donna Varese das Hotel »Taj Mahal«.
Sie drückte John beide Daumen und hoffte, daß er mit McClure und van Dyke aus Kanheri bald zurückkehren würde.
Donna begab sich zur Rezeption, um sich den Zimmerschlüssel zu holen.
»Einen Augenblick«, sagte der freundliche Inder hinter dem Pult.
»Ich glaube, da ist ein Brief für Sie… Ach ja, hier.«
Donna nahm das Schreiben in Empfang. »Vielen Dank.«
Es war ein Brief ihrer Redaktion. Ihr Chef teilte ihr mit, daß ihr letzter Bericht bei den Lesern gut angekommen war und ein großes Echo in ganz Italien hervorgerufen hatte.
Donna wurde gebeten, noch zwei weitere Arbeiten in dieser Richtung zu verfassen. Sie fächelte sich mit dem Schrieb kurz Luft zu und wußte Augenblicke später, wie ihr nächster Bericht in groben Umrissen aussehen würde.
Mit dem Fahrstuhl gelangte sie in ihre Etage.
Sie überlegte, ob sie die ersten Zeilen der neuen Arbeit noch rasch tippen sollte. Wenigstens die Rohfassung – und einige wichtige Stichwörter, die ihr später als Gerippe dienen konnten, das sie nur noch mit genügend Fleisch zu versehen brauchte.
Donna erreichte ihre Zimmertür.
Sie schloß auf, trat ein, und merkte, daß außer ihr noch jemand im Zimmer war.
***
Er stand neben der Tür.
Donna Varese starrte ihn einen Moment erschrocken an. Sie hatte ihn noch nie gesehen, stellte fest, daß er wie ein Seemann gekleidet war.
Es war nicht Angst, was sie empfand, sondern Entrüstung.
»Wie sind Sie in mein Zimmer gekommen?«
»Ich habe mir einen Schlüssel verschafft.«
»Was wollen Sie?«
»Ich will Sie!«
»Eine bodenlose Frechheit! Wer sind Sie?«
»Mein Name tut nichts zur Sache.«
»Sind Sie vielleicht einer der beiden Seeleute, mit denen John Sinclair gesprochen hat?«
»Sie können gut kombinieren. Gratuliere.«
»Wenn Sie nicht augenblicklich mein Zimmer verlassen, schreie ich, daß die Fensterscheiben zerplatzen!«
»Wenn Sie das tun, bin ich leider gezwungen, Sie zu töten.«
Donna Varese schluckte. Der Kerl meinte es ernst, das sah sie an seinem entschlossenen Blick.
»Weshalb sind Sie hier?« fragte die Römerin.
»Sie werden mit mir gehen.«
»Wohin?«
»Das werden Sie noch früh genug erfahren.«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Wende ich Gewalt an!« George McKammit löste sich von der Wand. Er trat schnell auf die hübsche Italienerin zu. »Sie tun gut daran, mir keine Schwierigkeiten zu machen, Lady. Fügen Sie sich in Ihr unvermeidliches Schicksal, dann werde ich Ihnen kein Haar krümmen.« Das behauptete McKammit zwar, aber es entsprach nicht der Tatsache. Er hatte nicht die Absicht, das Mädchen jemals wieder freizulassen. Sie würde im Treibhaus des Bösen enden, wie schon viele Mädchen vor ihr.
Donna Varese spürte instinktiv, daß der Seemann nicht die Wahrheit sagte. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie mit ihren Schwierigkeiten fertig wurde, wenn sie sich passiv verhielt.
Sie mußte etwas tun.
Aber was?
»Sie haben also die Absicht, mich zu kidnappen!« stellte Donna fest.
McKammit grinste. »Sie merken aber auch alles.«
»Ich bin nicht reich und habe keine Familie. Von wem wollen Sie Lösegeld verlangen?«
»An Geld bin ich nicht interessiert.«
»Woran denn?«
»An John Sinclair.«
»Er ist nach Kanheri gefahren.«
»Ich weiß. Ich weiß alles, was sich in Kanheri abspielt, denn zwischen dem Hort des Bösen und mir besteht seit kurzem eine schwarzmagische Verbindung.«
Donna Varese überlegte blitzschnell. John Sinclair hatte von dem Überfall der Skelettgeier erzählt, wobei einer der beiden Seeleute verletzt worden war.
Verletzungen konnte Donna bei dem Mann keine entdecken.
Dennoch glaubte sie nicht, Abel Grogger vor sich haben, sondern jenen Mann, dessen Blut geflossen war: George McKammit!
Er mußte eine unheilvolle Infektion davongetragen haben, die innerhalb kürzester Zeit seinen Körper vergiftet hatte.
Das Böse schwamm jetzt
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