011 - Das Mädchen in der Pestgrube
Leben erwachte?«
»Es könnte doch so gewesen sein«, meinte Helnwein.
Ich legte die Stirn in Falten und warf der ohnmächtigen Frau einen Blick zu. Irgend etwas stimmte nicht mit ihr. Ich hatte heute zweimal Visionen erlebt, in denen sie vorgekommen war. Und vergangene Nacht hatte ich von ihr geträumt. Spielte mir mein Unterbewußtsein einen Streich oder … Daran wollte ich nicht denken.
»Sie sind doch bis zu einem gewissen Grad unsterblich, Dorian«, sagte Helnwein. »Wäre es nicht denkbar, daß Sie …«
Ich zündete eine Zigarette an und inhalierte tief. »Sie meinen, daß ich nicht nur einfach Visionen hatte, sondern mich an Dinge erinnerte, die ich in der Vergangenheit selbst erlebte?«
»Es wäre doch möglich.«
»Unsinn«, sagte ich unsicher und stand auf.
Steffi war noch immer bewußtlos.
»Was wollen Sie jetzt machen, Dorian?«
»Sie sagten, daß Steffi jede Nacht das Haus verläßt. Wir werden ihr folgen.«
»Und was ist mit dem Haus der Schwestern Reichnitz?«
»Das hat Zeit«, sagte ich. »Zuerst möchte ich hinter das Geheimnis des Mädchens kommen.«
Ich hatte die Jalousien wieder heruntergezogen und saß neben dem Bett. Steffi war noch immer nicht wieder zu sich gekommen. Helnwein brachte eine Flasche Bier und ein paar belegte Brote.
»Sind sie ihr schon einmal gefolgt, wenn sie das Haus verließ?« fragte ich.
»Ja«, sagte Helnwein. »Einmal verschwand sie in der Nähe des Anwesens der Familie Zamis.«
»Was heißt verschwand?«
»Das ist schwer zu schildern«, meinte Helnwein. »Ich folgte ihr in einem Abstand von fünfzig Metern und ließ sie nicht aus den Augen. Doch als ich eine Straße überquerte und kurz den Kopf umwandte, war sie plötzlich fort. So, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Ein anderes Mal verfolgte ich sie bis in die Nähe des Stephansplatzes, dann verlor ich sie wieder aus den Augen.«
Ich aß ein Brot, trank einen Schluck Bier und überlegte dabei. »In der Wohnung der Schwestern Reichnitz entdeckte ich Fußabdrücke«, sagte ich und sah die Schuhe des Mädchens an. »Größe sechsunddreißig?«
Helnwein nickte.
»Ich vermute, daß Steffi in der Wohnung war. Die Fußabdrücke könnten von diesen Schuhen herrühren.«
»Aber wie kam sie ins Haus?« fragte Helnwein. »Und wie in die Wohnung?«
»Da fragen Sie mich zuviel. Eigentlich hätte ich gute Lust, der Familie Zamis einen Besuch abzustatten.«
»Das wäre der helle Wahnsinn«, sagte Helnwein.
»Ich bin sicher, daß die Familie Zamis etwas mit der ganzen Sache zu tun hat. Aber wenn Steffi ein Mitglied der Schwarzen Familie wäre, würde sie es kaum in Ihrem Haus aushalten.«
»Stimmt«, sagte Helnwein. »Ich habe zu viele Dämonenbanner aufgestellt.«
Ich rief mir nochmals die Visionen ins Gedächtnis, doch so sehr ich auch nachgrübelte, ich kam der Lösung des Rätsels nicht näher. Schließlich nahm ich das Amulett ab, das ich ständig um den Hals trug, hielt die runde Scheibe mit den magischen Zeichen in der rechten Hand und drückte sie auf Steffis Gesicht. Nichts geschah. Ich hängte mir das Amulett wieder um den Hals.
»Es hat den Anschein, als wäre sie kein Mitglied der Schwarzen Familie«, sagte ich. »Oder sie verfügt über so gewaltige Kräfte, daß sie gegen einfache Magie immun ist.«
»Ich glaube eher an das erste«, meinte Helnwein.
Ich schüttelte den Kopf. »Da bin ich mir nicht so sicher. Warten wir die Nacht ab.«
Wir wechselten uns in der Bewachung ab. Steffi war noch immer bewußtlos. Als es dunkel wurde, bewegte sie sich leicht. Ich öffnete das Fenster. Die Straßenbeleuchtung flammte auf, und Steffi bewegte sich unruhiger. Gegen halb neun Uhr drehte sie sich zur Seite, schob das Bettlaken zurück und stand auf. Sie trat ans Fenster und blickte in den winzigen Garten hinunter.
Ich blieb neben ihr stehen. Sie atmete schwer. Ich folgte dem Blick ihrer starren Augen. Sie sah den Mond an, dessen Scheibe fast voll war, dann streckte sie die Hände aus. Der Mond tauchte ihr schönes Gesicht in fahles Licht. Nach einigen Minuten ließ sie die Hände sinken, schloß die Augen, drehte sich um, griff nach der Bluse, schlüpfte hinein und knöpfte sie zu. Dann zog sie den Rock an und abschließend die kleinen Schuhe.
Einen Augenblick blieb sie unschlüssig stehen, ehe sie sich in Bewegung setzte und mit kleinen Schritten zur Tür ging. Sie drückte die Klinke nieder, doch die Tür war abgesperrt. Helnwein hatte den Schlüssel eingesteckt. Wir standen zwei Meter hinter
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