011 - Sanatorium der Toten
preßte
die Hand vor den Mund, fühlte immer noch die Bewegung zwischen ihren Beinen.
Ratten! In der Dämmerung erkannte sie die dunklen, wendigen Körper. Sie trat
nach den Nagern, aber die kehrten zurück und kannten keine Scheu.
Angst stieg
in Yvonne auf. Es war eine Furcht, die sich mit jeder Minute steigerte.
Dann hörte
sie die Stimme. Sie war ganz nahe.
»Isabell?
Bist du es?« Es war mehr ein heiseres Krächzen. »Isabell? Was machen sie mit
dir?«
Ketten
rasselten, als ob jemand verzweifelt versuchte, sich loszureißen.
Sie hielt den
Atem an, wagte nicht, einen Schritt weiterzugehen. Und dann bewegte sie sich
doch, wie ein Roboter, ohne sich dessen bewußt zu werden.
Sie hörte das
Rasseln der Ketten, das Stöhnen, die heiseren Flüche und immer wieder den Namen
Isabell, den die Stimme rief.
Yvonne Basac
zitterte am ganzen Körper. Vor Angst und Kälte. Sie tastete sich weiter an der
Wand vor. Ihre vor Angst geweiteten Augen waren auf den hellen Lichtfleck an
der Wand gerichtet, auf der sich ein flackernder Schein abzeichnete. Eine
Fackel war die Lichtquelle.
Sie steckte
in einer verrosteten Halterung unmittelbar neben einem torbogenähnlichen
Eingang.
Sie berührte
einen Stein, und ein dumpfes Poltern setzte sich in dem unheimlichen Gewölbe
fort.
»Isabell?!
Isabell?!« Wieder die Stimme – gequält, voller Angst und Entsetzen.
Und dann
glaubte Yvonne Basac ihren Augen nicht zu trauen.
Sie blickte
in einen Kerker!
Unter einem
winzigen vergitterten Fenster hingen an einer schweren, verrosteten Eisenkette
die Reste eines Skeletts. Darunter ein Berg aufgeschichteter Knochen, auf
denen, wie zum Hohn, der grinsende bleiche Totenschädel thronte. Und daneben,
an einer zweiten Kette, hing ein junger Mann, mit zerrissenen Kleidern. Das
Hemd hing in Fetzen von seiner Brust, die Armgelenke bluteten, die Haare hingen
ihm wirr in das schweißüberströmte Gesicht.
Der rötliche
Lichtschein der Fackel zeichnete einen bizarren, verzerrten Schatten von der
zusammengesunkenen Gestalt, die Yvonne Basac mit weit aufgerissenen Augen
musterte. Sie erschauerte unter diesem Blick, denn es waren die Augen eines
Wahnsinnigen. Der Mann an der Kette war jung, hatte nicht einmal schlecht
ausgesehen, doch jetzt hing sein linker Mundwinkel leicht herab, als würde er
hämisch grinsen. Sein Gesicht war verzerrt, und die schlechte Beleuchtung trug
mit dazu bei, diese makabre Szene zu unterstreichen.
»Isabell?«
brachte er krächzend über die aufgesprungenen Lippen.
»Ich bin
Yvonne«, erwiderte sie, und sie erkannte ihre eigene Stimme nicht.
»Isabell?« Er
schien sie offensichtlich nicht deutlich wahrzunehmen. Sein Blick war
verschleiert. »Ich bin Roger – Roger. Erkennst du mich nicht?! Löse die
Fesseln, Isabell, wir müssen ’raus hier. Es ist schrecklich in diesem Gewölbe.
Komm, laß uns weiterfahren.«
Und dann
sprudelten zusammenhanglose Worte über seine Lippen.
Yvonne Basac
schloß die Augen. Sie stand unter dem torbogenähnlichen Eingang des Kerkers,
wie eine aus Stein gemeißelte Statue.
Sie biß sich
so heftig auf die Lippen, daß sie Blut in ihrem Mund schmeckte.
Sie hörte
immer wieder die Stimme des angeketteten Mannes, der sich Roger nannte.
Manchmal hatte das, was er sagte, Hand und Fuß, oft jedoch waren es nur
Fragmente, die er vor sich hinmurmelte, die in kein Bild zu passen schienen.
Er riß
verzweifelt an seinen Ketten, und Yvonne Basac ging auf ihn zu. Sie erkannte
mit Schrecken, daß sie nicht mehr fähig war, ihre Gedanken klar und logisch zu
ordnen. Sie dachte an die klobige Liege, auf der sie erwachte und die mitten in
diesem Gewölbe aufgestellt worden war.
Wie aber war
sie hergekommen, und warum?
Da hörte sie
das Geräusch hinter sich. Es waren Schritte. Sie wirbelte mit einem Aufschrei
herum. Vier Hände griffen fast gleichzeitig nach ihr, rissen sie herum. Sie
schlug um sich, sie schrie, sie wehrte sich verzweifelt, doch es war, als ob
ein Zwerg gegen einen Riesen ankämpfte.
Der Mann an
den Ketten tobte, seine Flüche donnerten durch den Kerker, hallten durch die
Gänge. Die beiden Männer, die wie aus dem Boden gewachsen hinter Yvonne Basac
aufgetaucht waren, trugen rote Kapuzen und zerrten sie durch den steinigen,
staubigen Gang.
»Sie soll
Zeuge werden!« rief eine Stimme, und ein unheimliches, kraftvolles Lachen
folgte diesen Worten. »Sie soll sehen, welche Macht der Marquis de Noir noch
heute hat. Bringt sie in den Folterraum, kettet sie an!«
Der Marquis?
Das Wort
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