0119 - Der Weiße Magier
dicht neben dem Bruder. »Hast du hier das Boot versteckt?« fragte sie.
»Ja, ganz in der Nähe.« Juan nahm die Hand seiner Schwester und führte Evita in den schmalen Durchschlupf zwischen zwei hohen Felsen. Dahinter lag eine kleine, mit Wasser gefüllte Mulde. Ein See oder Naturhafen.
Nicht groß, doch immerhin so breit, daß ein Schlauchboot darauf schwimmen konnte.
Es war ein dunkles Boot, ausgerüstet mit einem Heckmotor, zwei Paddeln, einem aufstellbaren Segel und genügend Proviant.
»Woher hast du das Boot?« fragte Evita.
»Das ist doch jetzt unwichtig«, erwiderte ihr Bruder und sprang in den kleinen See. Das Wasser reichte ihm bis an die Knie. »Hilf mir mal, Schwester.«
Evita sprang ebenfalls.
»Geh zum Bug, wir müssen das Ding tragen.«
Evita warf ihre Tasche ins Boot und hob es am Bug an. Juan hatte den schwereren Teil übernommen, weil sich am Heck der Motor befand.
Aus dem Tümpel heraus schritten sie an Land. Der Sand war weich und körnig. Bereits nach einigen Schritten wurden ihre Füße vom anlaufenden Wasser wieder naß.
Hier war die Brandung nicht so stark, weil an dieser Seite die Insel durch eine kleine natürliche Bucht geschützt wurde. Weiter rechts und links stachen die Felsen wie Nasen ins Meer hinein. Dort wurden die anrollenden Wellen gebrochen.
»Der Motor ist stark genug, um das Boot auch durch die Brandung zu bringen«, sagte Juan.
Evita nickte nur. Sprechen konnte sie nicht. Jetzt nicht, wo alles kurz vor dem Abschied stand. Bisher war alles wie ein Traum gewesen, nun warf man sie in die brutale Wirklichkeit zurück. Sie hatte Angst, und sie zitterte.
Juan schob das Boot zur Hälfte ins Wasser. Er winkte. »Los, Evita, steig ein.«
»Willst du nicht doch…?«
Juan lächelte. »Nein, meine Liebe. Ich habe mich entschieden und bleibe hier. Es ist besser so. Laß dich noch einmal umarmen.«
Die Geschwister gingen aufeinander zu. Evita weinte, während ihr Juan sanft über den Rücken strich.
»Wir sehen uns wieder«, flüsterte er, »bald schon. Es kann nicht mehr so weitergehen, glaub mir das.«
»Ja, Juan.«
Der junge Mann drückte seine Schwester von sich. Auch er mußte hart schlucken.
Evita stieg in das Boot.
Die beiden jungen Menschen glaubten sich mutterseelenallein an diesem Teil des Strandes. Und niemand von ihnen sah die Augenpaare, die jede ihrer Bewegungen verfolgten. Längst waren die Häscher da.
Lautlos waren sie hinter ihnen hergewischt und hockten nun auf den Felsen.
Menschen waren es nicht.
Caligro hatte andere geschickt.
Die Schrumpfköpfe!
***
An einem Band zog der junge Mann zweimal, dann sprang der Motor an. Er knatterte ein paarmal und lief rund. Eine Welle hob das Boot hoch. Juan wurde überspült. Als er wieder klar sah, hatte das Boot schon ein paar Meter gewonnen.
Evita saß am Heck und hielt das Ruder ängstlich umkrampft.
Ihre Odyssee begann…
Juan ging wieder zurück. Bis über die Hüfte reichte ihm das Wasser, ein letztes Winken, dann entzog die nächste Welle das Boot den Blicken des jungen Mannes.
Juan war froh, als er wieder trockenen Boden unter den Füßen hatte. Er schüttelte den Kopf, das Wasser perlte aus seinen Haaren, und im selben Augenblick spürte er den Schlag auf der rechten Schulter.
Juan drehte den Kopf und schrie auf.
Auf seiner Schulter hockte der Schrumpfkopf. Er kannte das Gesicht. Es gehörte Jorge!
Weit riß der Kopf sein Maul auf. Er bleckte die spitzen Zähne, wollte sie in das Fleisch der Schulter hacken, doch Juan überwand sich selbst. Er schlug den Kopf von seiner Schulter.
Mit einem dumpfen Laut landete der häßliche Schädel im Sand.
Sofort kreiselte Juan herum. Er tauchte dabei zur Seite, und das war sein Glück, denn ein zweiter Schrumpfkopf ließ sich von einem Felsen fallen.
Instinktiv trat Juan mit dem rechten Fuß zu. Die Schuhspitze traf das häßliche Gesicht, und der Schädel wurde ein paar Meter weit geschleudert, wo er gegen einen Felsen prallte.
Juan Torres lief zurück. Noch in der Bewegung griff er in seine hintere Hosentasche und holte das Messer hervor. Auf Knopfdruck stieß die Klinge aus dem Griff.
Juan blieb stehen.
Sie hatten ihn erwischt, daran gab es keinen Zweifel. Nur gut, daß Evita weg war. Sie wäre mit dem Grauen nicht fertig geworden. Es hätte sie regelrecht überschwemmt.
Der junge Mann schaute sich um.
Noch immer fiel das Mondlicht auf den Strand und hellte den Sand auf. Jetzt gereichte dieses Licht Juan zum Vorteil, er konnte besser
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