0119 - Königin der Seelenlosen
Bill.
»Ich zähle zwei. Hattest du vorher mehr?«
»Ich erinnere mich nicht mehr daran. Betrachte mal ein altes Foto von mir.«
Zamorra stützte Bill, als er ihn in die Vertikale brachte. Bill stand schwankend wie der Mast einer Jolle im Sturm.
»Hey«, meinte er nach einer Weile, als er sich die Rippen abgetastet hatte. »Der Teufel soll mich holen, wenn da nicht ein Wunder passiert ist.«
Zamorra verstand nicht sofort, aber er kapierte, als Bill Fleming aus der Tasche seines zerschlissenen, in Fetzen hängenden Hemdes einen Flachmann holte. Die in Leder geleimte Nickelflasche schien unversehrt. Bill bewahrte darin seine eiserne Bourbonration auf. Genießerisch schnalzte er mit der Zunge, als er mit abgeschundenen Fingern die Verschlußkappe aufdrehte.
»Du hast nicht zufällig ein paar Eiswürfel in der Hosentasche?« fragte Zamorra gegen seinen Willen amüsiert, denn zum Lustigsein hatten sie nicht den geringsten Anlaß.
Da fiel Bills Blick auf die immer noch bewußtlose Nicole, schaute dann seinen Flachmann an und seufzte gottergeben. Er reichte den Behälter an Zamorra weiter.
»Ich werde meine kleine Privatparty wohl etwas verschieben müssen, eh? Sie sieht aus, als könne sie den Stoff nötiger gebrauchen.«
Zamorra nahm die winzige Flasche. Von Bill hatte er nichts anderes erwartet. Für Nicole hätte sich der blondschöpfige, hagere Amerikaner sogar in Streifen schneiden lassen, auch wenn er das nicht zugab. Auch er liebte dieses quirlige, kapriziöse Wesen und hatte seine Schwierigkeiten, die Zuneigung in platonische Bahnen zu leiten.
»Sie braucht nicht zufällig Mund-zu-Mund-Beatmung?« fragte er.
»Nein, nein. Nur deinen Whisky. Wie ich sie kenne, wird sie sich mit einer halben Gallone bedanken.«
»Hm. Und mit deinem Geld bezahlen. Ich kenne sie nämlich inzwischen auch schon ein wenig.«
Damit hatten sie genug Zeit für Geplänkel vertan, das aber dennoch wichtig gewesen war, weil es beiden Männern gezeigt hatte, daß sie noch lange nicht aufgegeben hatten, obwohl sie ohne alles in einer Gegend saßen, die dafür berüchtigt war, daß es hier ebenso viel Wasser gab, wie im Inneren einer Seifenblase.
Der Bourbon holte Nicoles Lebensgeister auf der Stelle zurück. Anfangs fand sie sich in der nächtlichen Wirklichkeit noch nicht zurecht. Das änderte sich nach kurzer Zeit, hielt jedoch nicht lange an.
Die beiden Männer hatten der Ruine den Rücken zugewandt. Nicole nicht.
Plötzlich war da ein prickelndes Schwingen in der Luft. Ein Singen wie von einer Glasharfe. Geheimnisvoll, exotisch und unter die Haut gehend wie der Nadelstich in die Vene bei einer Blutentnahme.
Nicoles Augen öffneten sich unnatürlich weit. Sie streckte den Arm gerade aus, der Zeigefinger wies an den beiden Männern vorbei.
»Dort…«, hauchte sie.
Dann fiel sie ein zweites Mal in Ohnmacht.
Bill bangte nicht mehr nur um seinen Bourbon.
***
Justin Malder erwachte, weil er Durst hatte. Das passierte ihm oft. Schon von jeher war es ihm eine Gewohnheit, mit einer Flasche Wasser oder Limonade auf dem Nachttisch ins Bett zu steigen.
Hier im Zelt stand die Flasche Zitronenwasser auf der Aluminium-Kiste, in der er in der Hauptsache seine Fotosachen aufbewahrte.
Meist nahm er die paar Schlucke im Halbschlaf zu sich, um sich sofort darauf wieder umzudrehen und friedlich weiterzupennen. Aber diesmal verhinderten vernehmliche Schnarchtöne die Fortsetzung lieber Gewohnheiten.
Justin Malder selbst trank nicht, oder besser gesagt, nur in Maßen. Ab und zu ein Gläschen Wein. Niemals einen harten Drink. Er war so erzogen worden und hatte nach einigen einschlägigen Experimenten während seiner Studentenzeit außer einem miserablen Katzenjammer nichts von den vorherigen Saufgelagen gehabt. Da in seiner Familie schon seit Generationen analytisch gedacht wurde und diese Art, die Dinge zu betrachten, in die Erbmasse aufgenommen worden war, hatte er danach die Finger für immer vom Schnaps gelassen.
Deshalb war sein Geruchssinn in dieser Hinsicht auch besonders entwickelt. Alkoholfahnen waren ihm ein Greuel. Er nahm sie noch aus einigen Metern Entfernung wahr, und weil ihm ein Dutzend Gläser Weinbrand den größten und scheußlichsten Kater seines Experimentierstadiums verschafft hatten, war er gegen diesen Duft vorrangig allergisch.
Er hatte sich schon umgedreht gehabt. Zur Zeltwand hin. Aber jetzt drehte er sich wieder zurück. Er rieb sich noch den Schlaf aus den Augen und setzte die Füße auf den nackten Boden. Er
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