012 - Der Schatten des Vampirs
Conchita, die er nie aufgehört hatte zu lieben, in den Armen seines Feindes! Er wollte nur weg, fort. Ohne die nackte Frau loszulassen, versetzte ihm Santiago einen heftigen Tritt ans Schienbein. Felipe heulte auf, fiel zu Boden und krümmte sich vor Schmerz.
Concha war über und über rot.
„Santiago, ich bitte dich“, flehte sie ihn an.
Der Seringueiro brach in Lachen aus, küsste ihre Brüste und höhnte: „Für heute hat er wirklich genug gesehen. Komm Liebling, wir werden eine schöne Nacht haben. Und du auch, Felipe, träume süß!“
Er versetzte Felipe, der sich auf allen vieren zur Tür hin bewegte, noch einen Tritt, und warf die Tür hinter ihm zu.
Draußen blieb Felipe am Boden kauern. Er winselte wie ein Tier, und Tränen rannen ihm über das Gesicht.
Ja, er hatte fliehen wollen, hatte versucht, zur Bruja ins Tal des Todes zu entwischen. Er hatte einen neuen Versuch gemacht, sich zu befreien, aber er war wie angekettet; nicht nur durch seine verkrüppelten Füße, sondern auch durch Santiagos Hass und den Urwald, der sie umgab wie eine Gefängnismauer.
Alles dies war ihm durch Concha widerfahren – und dennoch erduldete er alles nur, weil er noch in ihrem Schatten leben durfte. Das war der einzige Trost für ihn in diesem jammervollen Dasein. Nur weil er sie jeden Tag sehen durfte, hatte er sich noch nicht umgebracht.
Ja, auch soeben hatte er sie gesehen – in Santiagos Armen!
Noch immer schüttelte ihn heftiges Schluchzen, er kam nicht dagegen an. Jedoch wurde das Schluchzen regelmäßiger, fast rhythmisch. War es nicht der Rhythmus des Zauberliedes, den er in die Nacht hinaus heulte? Das Zauberlied – es hatte seine Wirkung verloren. Denn hinter dieser Tür lag Conchita in den Armen ihres Geliebten.
Es war der Lärm einer fröhlichen Gesellschaft, der zu den Petroleumlampen an der Decke des großen Saals hochstieg. Die Regenfälle hatten allmählich nachgelassen. Die schlechte Jahreszeit ging ihrem Ende entgegen, und die Seringueiros erholten sich langsam wieder vom lärmenden Nichtstun. Bald würde die Arbeit in der Pflanzung wieder anfangen, eine harte, undankbare, schlecht bezahlte Arbeit. Und dennoch nährte sie in diesen unglücklichen Männern die Hoffnung. Das bisschen Kautschuk würde ihnen so viel Geld einbringen, dass sie in ein besseres Leben zurückkehren konnten. Die Flucht aus der Grünen Hölle gelang nur über die Arbeit.
Die „Mama“ machte gute Geschäfte. Viele Männer ließen ihr die letzten Scheine, die sie über die Regenzeit herübergerettet hatten. So war es oft. Sie arbeiteten, verdienten, und wenn sie krank waren, zu schwach oder einfach dem Spiel, den Huren oder dem Alkohol verfallen, blieben sie hier bis zur nächsten Regenzeit, immer im selben Teufelskreis, bis sie endgültig vor die Hunde gingen.
Die Unterhaltung war lebhaft. Schon träumten die Männer von neuen Abenteuern. In den nächsten Tagen musste man sich erst einmal um die Pferde kümmern. Einer von ihnen, ein früherer Schmied, fragte, wer ihm beim Beschlagen helfen wolle. Denn während der Regenzeit waren die Tiere kaum bewegt und sehr vernachlässigt worden.
Andere behaupteten, sie hätten einen Vampir über dem Dorf kreisen sehen – an einem Abend, als es nicht regnete.
Die Gegenwart des Blutsaugers regte die Phantasie der Gäste an. Der Vampir war für die Seringueiros der Feind Nummer eins. Außer durch ihren scheußlichen Anblick erschreckte die Riesenfledermaus die Uhrwaldbewohner durch ihre furchtbare Angewohnheit, ihre Opfer im Schlaf zu überfallen. Die Verletzungen führten nicht immer zum Tod, aber durch den Biss drang oft der Speichel des Tieres in die Wunde und hinterließ Fieberbakterien im Fleisch. So konnten Paralyse und andere schlimme Krankheiten übertragen werden.
Man nahm sich vor, den Vampir genau zu beobachten und bei nächster Gelegenheit zu töten, bevor er im Dorf ein Opfer gefunden hatte. Ein Nachtwächter sollte die Stallungen, bewachen, denn die Pferde waren eine ganz besonders bevorzugte Beute des Blutsaugers.
Solange das fliegende Ungeheuer nicht unschädlich gemacht war, fühlte sich niemand wirklich ruhig. Für die Menschen in der Pflanzung war der Vampir das Symbol des Dschungels und der Unglücksbote für seine Zaubermächte.
Die Männer warteten jetzt auf Concha. Santiago hatte schon Platz genommen und ein Glas Cachaca bestellt. Er trank einen mit der „Mama“, solange die Tänzerin sich vorbereitete. Drei Kameraden, die das improvisierte
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