012 - Die Sekte des Lichts
einer Spritze auf. Sorgfältig klopfte er die Luft nach oben und drückte auf den Kolben, bis der erste Tropfen der gelblichen Flüssigkeit an der Spitze der Nadel erschien. Dann erst stach er sie in eine hellbraune Kautschukmanschette über dem Zuleitungsschlauch links der Geräteanordnung.
Den Extrakt hatte er in seinem Molekularsynthesizer gewonnen und gereinigt. Unter dem Rastersondenmikroskop hatte er es mit Enzymen präpariert, mit Botenstoffen, die es genau an die Stellen des Rattenorganismus transportierten, an denen es gebraucht wurde.
Vittoris arbeitete an einer Software, durch die dieser Arbeitsgang sich bald erledigen würde. Noch ein Jahr oder zwei, und der Qu- Computer würde die Herstellung des EL- Extrakts steuern. Den RV-Perfusor steuerte er jetzt schon.
EL-Extrakt. So nannte Vittoris das Präparat. EL waren die Initialen von »Eternal Life«.
Langsam spritzte der Wissenschaftler die gelbliche Flüssigkeit in den Zuleitungsschlauch.
»Noch drei Stunden.« Zärtlich streichelte er mit dem Zeigefinger über das Bauchfell von Gates.
»Dann bist du fit für die nächsten zwei Wochen.« Anfangs hatte er die Tiere alle drei Tage an den RV-Perfusor angeschlossen. Sein Ziel war es, einen Dreimonats-Rhythmus zu erreichen.
In etwa einem halben Jahr würde er so weit sein, den EL-Extrakt und den RV-Perfusor an Schweinen und Schimpansen zu testen. Und in zwei Jahren würde er ihn an Menschen ausprobieren. An drei Kopien der Individuen aus dem Reliquienschrein des Kölner Domes!
Natürlich glaubte Vittoris nicht daran, dass die alten Knochen auch nur im Entferntesten etwas mit den sogenannten Heiligen Drei Königen zu tun hatten. Er glaubte nicht einmal, dass es diese legendären Könige überhaupt gegeben hatte. Aber das spielte keine Rolle für den Molekularbiologen. Hauptsache, es gelang ihm, drei Embryonen zur Seite zu schaffen. Er wollte das von ihm entwickelte EL-Programm an jungen Menschen ausprobieren. Und wer eignete sich besser dazu als Menschen, die von Rechts wegen gar nicht existieren dürften und juristisch auch nicht existierten?
Vittoris zog die Nadel aus der Kautschukmanschette und drehte sich zum Rattenkäfig um. »Und wer ist als nächstes dran? Ich glaube du, Daimler…«
Er legte das Spritzenbesteck in eine Nierenschale mit Reinigungsflüssigkeit. Die letzten Takte der Beethovensymphonie erfüllten den Raum. Vittoris hob die Arme und dirigierte mit. Den Schluss der Sechsten liebte er besonders. Kaum verklang der letzte Ton, kam das Zeitzeichen: drei Uhr. Die Nachrichten.
Vittoris hörte nur mit halbem Ohr zu.
»…haben gestern zwei Hobbyastronomen einen neuen Himmelskörper entdeckt…«
Daimler und Chrysler standen auf den Hinterläufen und machten Männchen. Sie schienen zu lauschen. Vittoris vermutete, dass ihnen die ruhige Stimme des Nachrichtensprechers vertraut war.
»…von einem Berg auf Jamaica aus sichteten sie einen Kometen, der bisher noch nicht astronomisch erfasst worden war…«
Vittoris schaltete sein Computerterminal ein. Auch Gates war mit Mikrosonden gespickt. Der Quantencomputer las alle dreissig Sekunden sämtliche relevanten Werte im Körper der Ratten ab.
»…bestätigte die NASA die Entdeckung. Das die Erde umkreisende Riesenteleskop ›Hubble II‹ hat den Kometen ebenfalls ausgemacht…«
Die Routinekontrolle brachte das erwartete Ergebnis - keine abnormen Befunde. Zufrieden machte Vittoris seinen obligatorischen Eintrag ins elektronische Protokoll.
»… ›Christopher-Floyd‹, wie der Komet nach seinen Entdeckern benannt wurde, wird nach aktuellen Berechnungen der NASA in nur fünfzehn Millionen Kilometern Entfernung an der Erde vorbeiziehen…«
***
Coellen, Jahrhunderte später
Ein matter Lichtfleck schimmerte am Ende eines dunklen Tunnels. Stimmen drangen von weit her in den Tunnel ein und hallten in Matthews Bewusstsein wider. Stimmen, die aus dem Lichtfleck zu kommen schienen. Lauter unverständliche Töne. Matt bot alle Willenskraft auf, um sich dem Licht entgegen zu schieben.
Die Stimmen wurden lauter und deutlicher. So deutlich, dass Matt die Bedeutung einiger Worte begriff: Betrüger…Bündnis…mein Gefangener…Lass mich in Ruhe… Matthew Drax konnte sich keinen Reim auf diese Worte machen. Doch ihn beschlich die vage Ahnung, es könnte um ihn gehen.
Er riss die Augen auf. Er lag auf dem Rücken. Ein dunstiger Himmel spannte sich über ihm. Unter sich spürte er eine harte Unterlage. Eine schwankende Unterlage.
Übelkeit
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