012 - Die weiße Wölfin
fest. »Und Sie würden ihm helfen, falls Sie es könnten. Stimmt das?«
Coco hob hilflos die Schultern. »Fragen Sie mich nicht. Es kommt alles so plötzlich. Ich kann einfach keine Stellung beziehen. Können Sie das nicht verstehen?«
Der O. I. nickte langsam. »Ich kann mir vorstellen, was jetzt in Ihnen vorgeht. Aber es gibt kaum einen Zweifel; Hunter hat die sieben Leute brutal ermordet. Und Sie können sich doch nicht auf die Seite eines Mörders stellen.«
Coco drückte die Zigarette aus und stand langsam auf. »Ich gehe jetzt auf mein Zimmer. Ich muß nachdenken.«
Der O. I. stand ebenfalls auf. »Verlassen Sie das Haus nicht! Ich bin sicher, daß Hunter noch mal Kontakt mit Ihnen aufnehmen wird. Und vielleicht erwischen wir ihn das nächste Mal. Ich kann doch auf Ihre Unterstützung rechnen?«
»Ja«, sagte Coco schwach. Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.
»Was halten Sie von Hunters Anruf?« wandte sich der O. I. an Cohen.
Der Agent rieb sich den Nacken, der noch immer schmerzte. Hunter hatte recht fest zugeschlagen. »Sie lügt. Ich wette, daß sie das Haus verlassen wird.«
»Das glaube ich auch«, sagte der O. I. »Und wir werden ihr folgen. Sie wird uns zu Hunter führen. Ich werde jetzt alles Notwendige veranlassen. Coco soll nicht aufgehalten werden, wenn sie das Haus verläßt.«
Cohen nickte.
Ruhelos ging Coco in ihrem Zimmer auf und ab. Sie hatte das Fenster geöffnet, doch das Licht nicht angedreht. Immer wieder versuchte sie zu einem Entschluß zu kommen. Es war erst wenige Monate her, seit sie Dorian Hunter kennengelernt hatte. Konnte sie ihm wirklich vertrauen? Andererseits empfand sie sehr viel für ihn; aus Liebe zu ihm hatte sie schließlich die Schwarze Familie verlassen.
Endlich stand ihr Entschluß fest: Sie würde sich mit Hunter treffen. Sie mußte mit ihm sprechen, und sie glaubte ihn gut genug zu kennen, um danach genau beurteilen zu können, ob er die Wahrheit sprach oder log.
Sie blickte auf die Uhr. Noch fünfundzwanzig Minuten bis Mitternacht. Sie trat ans Fenster und sah in den Garten. Das Grundstück, auf dem die Jugendstilvilla stand, war von einer hohen, efeuumrankten Steinmauer umgeben. Der Garten und das Haus waren durch unzählige Dämonenbanner gegen einen Angriff der Schwarzen Familie abgesichert. Cocos Zimmer lag im ersten Stockwerk. Sie schwang sich aufs Fensterbrett und ließ die Beine baumeln. Ihre Tasche hängte sie über die linke Schulter, dann ließ sie sich einfach zu Boden fallen, ging in die Knie und sprang auf.
Lauschend blieb sie stehen. Aus den Fenstern des Erdgeschosses fiel gelbes Licht in den Garten. Sie lief zwischen einigen Sträuchern zum Gartentor. Nach wenigen Schritten verschmolz sie mit der Dunkelheit. Am Tor klammerte sie sich an der Steinmauer fest und erreichte mit einem Klimmzug das Mauerdach. Vor dem Tor stand ein Posten. Sie lief geräuschlos auf der Mauer entlang, bis der Agent nicht mehr zu sehen war, denn sprang sie auf die Straße.
Zu dieser Zeit herrschte kaum Verkehr in der Baring Road. Immer wieder blickte sie sich um. Kein Mensch verfolgte sie. Nach fünf Minuten erreichte sie die Bahnstation Grove Park. Sie löste ein Ticket und hörte den Vorortszug einfahren. Blitzschnell rannte sie die Stufen hinunter und sprang in einen Waggon. Kaum hatte sie die Tür zugeschlagen, als der Zug abfuhr. Sie hatte die Absicht, bis zur Endstation Charing Gross zu fahren und sich dort ein Taxi zu nehmen.
Der Vorortszug fuhr rasch durch die Nacht. Coco lehnte sich zurück und dachte nach. Sie hatte mehr als zwanzig Minuten Zeit, bis sie Charing Cross erreichte. Dort reihte sie sich in den Strom der Fahrgäste ein und verließ den alten Bahnhof. Sie betrat den Strand und blickte zur Nelsonsäule auf. Auf dem Trafalgar Square herrschte noch reger Betrieb. Kurz sah sie sich wieder um, erkannte aber kein bekanntes Gesicht. Trotzdem fühlte sie sich verfolgt.
Endlich kam ein freies Taxi vorbei. Sie fuhr in Richtung Norden, stieg nach zehn Minuten aus, fuhr abermals ein Stück mit der U-Bahn und nahm sich dann wieder ein Taxi. In der Muswell Hill Road verließ sie den Wagen und sah ihm nach. Sie hatte sich während der Fahrt immer wieder umgeblickt, doch es war ihr kein Wagen aufgefallen, der sie verfolgt hatte.
Sie erreichte die schmale Wood Lane, die direkt zum Eingang des Queen's Wood führte. Zwei betrunkene, junge, ungepflegte Männer kamen ihr entgegen.
»Hallo, Süße!« lallte der eine.
Er trug einen Vollbart, und
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