012 - Freie Seelen
es nicht besonders gut.
Eigentlich ist diese Aussage falsch. Genau genommen geht es mir ziemlich beschissen. Geradezu mörderisch schlecht.
Ich lache meinem Spiegelbild zu. Ein kläglicher Versuch. Schwarze Stümpfe recken sich mir entgegen. Mein Zahnfleisch ist entzündet. Die Lippen sind rissig.
Im nächsten Moment tritt das alles in den Hintergrund. Der Schmerz breitet sich aus.
Von überall. Nach überall.
Mein Kopf scheint zu zerspringen, mein Zahnfleisch blutet, der metallische Geschmack lässt mich würgen. Ich kotze, genau in dem Moment, in dem es in meinem Magen explodiert.
Der Schmerz wandert die Speiseröhre hinauf, füllt meinen Kehlkopf, bevor ein weiterer Schwall bitterer Flüssigkeit aus mir heraus bricht.
Mühsam halte ich mich an dem verschmierten Waschbecken fest. Am Rande sehe ich, wie die Kotze vom Becken tropft, dann wackelt die Welt um mich herum, dreht sich langsam, ich beuge mich nach vorne und umklammere den Wasserhahn wie einen letzten Rettungsanker.
Ich verharre einen Moment, versuche krampfhaft, meinen Atem zu beruhigen. Dann merke ich, wie meine Füße in der Schmiere rutschen. Mein Verstand versucht zu reagieren, aber meine Muskulatur ist verkrampft, mein Reaktionsvermögen auf die Ewigkeit ausgerichtet.
Es gibt einen Schlag, ein Schmerz explodiert in meinem Kopf. Dann richte ich mich auf, reflexartig den Wasserhahn loslassend, falle nach hinten. Eine weitere Explosion, dann wird es schwarz.
*
7. Juni 2063
Er wartete, bis der Wachmann vorüber war, dann zündete er die Schwingungsbombe und heftete sie an die Wand.
Er zählte lautlos bis zehn, dann war er sich sicher, dass die Kameras außer Gefecht waren. Der Zwischenfall würde eventuell nicht auffallen, da die Kameras nach fünf Minuten wieder funktionierten, aber er rechnete mit dem Schlimmsten.
Er rannte hinüber, heftete den Encodierer an das Schloss und schon nach wenigen Augenblicken glitt die Tür lautlos zur Seite. Der Encodierer würde dafür sorgen, dass die Betätigung der Tür nicht gemeldet würde, das hielt zwar keiner intensiven Untersuchung stand, aber für den Moment sollte es reichen. Er hatte nicht vor, länger in der Flibo-Zentrale zu bleiben und hoffte, über alle Berge zu sein, bevor sein Eindringen auffallen würde.
Er rief sich den Lageplan in Erinnerung. Während er den Gang entlang lief, spielte er seinen Weg in Gedanken durch. Nach wenigen Minuten blieb er stehen und betrat einen Raum.
Die Toilette. Hier befanden sich keine Kameras. Er sah auf die Uhr. Knapp, aber geschafft, er war innerhalb der fünf Minuten geblieben, in denen die Schwingungsbombe den Empfang der Kameras blockierte. Er atmete kurz durch.
Dann nahm er den Rucksack von den Schultern, während er eine der Kabinen aufsuchte. Er zog sich aus, nahm die Flibokluft, eine blaue Uniform, zog diese an, zog eine Gesichtsmaske über, die seiner Identität angepasst war und stopfte die alte Kleidung in die Toilettenschüssel. Der Rucksack ging den gleichen Weg.
Aus der Hosentasche entnahm er eine Phiole, die er zerbrach und in die Schüssel warf. Nur wenig später hatte sich die Kleidung aufgelöst, zurück blieb nur die zerbrochene Phiole, die er durch Betätigung der Spülung in das Abwasser spülte.
Es war unwahrscheinlich, dass jemand die Überreste fand, aber auch dann würde sich die Spur im Sande verlaufen, dafür hatten die Spezialisten von Freie Seelen schon gesorgt.
Mit einem letzten Blick vergewisserte er sich, dass alle verräterischen Spuren verwischt waren. Dann ging er nach vorne und warf einen letzten Blick auf sein Spiegelbild.
Welch ein Unterschied zu den vergangenen zwei Jahren. Strahlend weiße Zähne, gesunde Hautfarbe, kurz geschorenes Haar. Die Zähne waren etwas ganz Besonderes, nicht nur nützliches Kauwerkzeug, sondern auch eine Waffe für den Notfall.
Er straffte sich. Bis hierhin lief alles wie am Schnürchen. Doch jetzt kam der heikle Teil. Er öffnete die Tür und begab sich auf den Gang. Der Höhle des Löwen entgegen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
*
31. Dezember 2062
Sie fließt nicht mehr. Nein, eher stockt sie. Aber auch das nicht. Sie schreitet. Würdevoll. Majestätisch. Wenn ich es positiv sehen möchte. Mache ich aber nicht. Dehnbarkeit ist der Begriff, der mir zu schaffen macht.
Eigentlich ein viel zu harmloser Ausdruck. Ja, wenn ich es mir recht überlege, viel zu harmlos. Man stellt sich einen Kaugummi oder eine Stretchjeans vor. Oder man verwendet den Begriff
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