0120 - Die Stunde der Vampire
allzu langer Zeit hatte noch die Klasse der Mulatten Haiti beherrscht. Die Neger, obwohl rund neunzig Prozent der Gesamtbevölkerung stellend, hatten nichts zu sagen gehabt. Dann aber war François Duvalier, genannt Papa Doc, gekommen und hatte die Regierungsgewalt an sich gerissen. Papa Doc war Neger, und damit hatten die Mulatten ausgespielt. Die ehemalige haitanische Oberschicht war zu Unterprivilegierten geworden. Und auch unter dem Nachfolger von Papa Doc, seinem Sohn Jean Claude Duvalier, genannt Baby Doc, hatte sich daran nichts geändert. Wer es in Haiti zu etwas bringen wollte, mußte unvermischtes, schwarzes Blut in seinen Adern haben.
So wie Monsieur Dessalines, ein Mann Anfang der vierzig, elegant, aalglatt und mit einem unerhört wachen Ausdruck in den dunklen Augen.
»Es ist mir eine Ehre, einen Mann von Ihrer Bedeutung empfangen zu dürfen, Monsieur Zamorra«, begrüßte er den Professor und bot ihm in der luxuriösen Sitzecke seines aufwendigen Büros einen Platz an.
Zamorra setzte sich, und Dessalines nahm ihm gegenüber in einem wuchtigen Sessel Platz.
»Einen Cognac?«
»Gerne.«
Dessalines betätigte einen Klingelknopf. Sofort erschien ein dienstbarer Geist. Ein Mulatte natürlich.
Wenig später kam der Cognac, der von erlesener Qualität war, wie Zamorra als Kenner nicht verborgen blieb.
»Was kann ich für Sie tun, Monsieur Zamorra?« lächelte der Haitianer.
»Ich möchte Sie warnen, Monsieur Dessalines«, sagte Zamorra.
»Mich?« Das Lächeln Dessalines verstärkte sich.
»Nicht Sie persönlich. Ihre Bevölkerung!«
»Vor Fidel?« Leichter Spott lag jetzt in der Stimme des Regierungsvertreters.
Der Professor überging die Anspielung auf den Buhmann ganzer Völkerscharen.
»Wie stehen Sie zu Voodoo?« fragte er ganz überraschend.
»Nun…« Dessalines zögerte.
Zamorra ergriff wieder das Wort: »Bevor Sie jetzt fürchten, sich gegenüber einem aufgeklärten Mitteleuropäer etwas zu vergeben, will ich Ihnen sagen, daß ich Voodoo nicht für Mummenschanz und Aberglauben halte.«
»Ich auch nicht«, sagte Dessalines.
»Gut, dann kann ich offen sprechen.«
Und Zamorra sprach offen. Er sagte alles, was zu sagen war. Interessiert hörte Dessalines zu, unterbrach die Ausführungen des Professors nicht.
»Eine häßliche Geschichte«, sagte er, nachdem Zamorra zum Schluß gekommen war. »Eine sehr häßliche Geschichte. Was schlagen Sie vor, Monsieur Zamorra? Den Einsatz von Militär?«
Der Professor schüttelte den Kopf. »Mit herkömmlichen Mitteln ist gegen die Abgesandten der jenseitigen Welt nichts auszurichten. Nein, es gibt nur eine einzige Möglichkeit, um Schaden von der Bevölkerung abzuwenden.«
»Und die wäre?«
»Evakuierung.«
Der Regierungsvertreter griff nach seinem Cognacschwenker und trank, setzte das Glas dann wieder auf den Rauchtisch zurück.
»Was soll evakuiert werden, Monsieur Zamorra? Die ganze Region etwa?«
»Ich fürchte, ja! Es ist leider nicht möglich, die Örtlichkeit ganz genau zu bestimmen, an der die Vampire auftauchen werden. Deshalb könnten mehrere Ansiedlungen betroffen werden. Ich habe mir das mal auf der Karte angesehen. In Frage kämen Les Irois, Tiburon, Desirée, Les Anglais, vielleicht auch noch ein paar kleinere Orte, die landeinwärts liegen und nicht auf der Karte aufgeführt sind.«
»Und alle diese Siedlungen wollen Sie evakuieren?« fragte Dessalines mit gefurchter Stirn.
»Ich sehe keine andere Alternative.«
Sekundenlang sagte der Regierungsvertreter gar nichts. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
»Unmöglich, Monsieur Zamorra!«
»Warum?«
»Haiti ist nicht Europa. Wir sind hier ein bißchen…, na ja, rückständig. Und das trifft besonders auf das Departement Sud zu. Es fehlen Straßen, es fehlen Transportmöglichkeiten. Und auch rein organisatorisch ist das in drei Tagen gar nicht zu schaffen. Ich fürchte, wir können da überhaupt nichts machen, Monsieur Zamorra.«
»Sie wollen die Menschen einfach ihrem Schicksal überlassen?« Zamorra spürte deutlich, wie die Empörung in ihm aufstieg.
Dessalines labte sich wieder an seinem Cognac. »Wie viele Personen sind in Cypress Springs ums Leben gekommen?«
»Drei!«
»Und verschwunden sind…?«
»Mehr als dreißig!«
Es war unfaßbar, aber Dessalines lächelte jetzt. »Kennen Sie die durchschnittliche Lebenserwartung in Haiti, Monsieur Zamorra?« fragte er.
»Nicht genau. Aber ich weiß, daß sie erschreckend gering ist. Haiti nimmt, glaube ich, eine
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