0120 - Die Stunde der Vampire
vorne und schlug von unten gegen den Pistolenarm des Bewaffneten. Der verlor das Schießeisen zwar nicht aus der Hand, konnte aber nicht verhindern, daß der Lauf plötzlich zum Himmel zeigte. Boulder packte den Arm des Gegners und verdrehte ihn mit aller Kraft. Der Kerl verzog schmerzerfüllt das Gesicht und stieß einen Stöhnlaut aus. Er konnte die Pistole nicht länger festhalten. Sie entglitt seinen Fingern und polterte auf das Teakholz des Decks.
Sofort ließ Boulder den Haitianer los und hechtete nach der Pistole.
Fast hätte er es geschafft, sie in die Hand zu bekommen. Er berührte sie schon mit den Fingerspitzen. Da setzte einer der Piraten einen Fuß auf sein Handgelenk.
Eine Sekunde später spürte er ein Messer an seiner Kehle. Und da wußte er, daß es sinnlos war, weiteren Widerstand zu leisten. Er gab auf.
Auch die beiden Schwestern waren viel zu entsetzt, um sich zu wehren. Wie Mick Boulder nahmen sie es hin, daß die Haitianer ihnen Fesseln anlegten und sie an der Reling festbanden.
Dann kümmerten sich die Piraten um Jeremy Lucas. Zu dritt stiegen sie die Treppe zur Kajüte hinunter. Mit wuchtigen Fußtritten fingen sie an, die abgeschlossene Tür zu zerstören.
»Verschwindet!« gellte Lucas’ Stimme durch das Holz. »Ich habe hier einen Revolver, und wenn ihr nicht sofort macht, daß ihr wegkommt, lege ich euch um!«
Mick Boulder und die Mädchen wußten, daß er bluffte. An Bord der ›Happy Dutchmann‹ befand sich gar kein Revolver.
Ob die Haitianer das ahnten oder ob sie nur nicht verstanden hatten, was Lucas da brüllte, erfuhren die Amerikaner nie. Es spielte auch keine Rolle. Ungerührt fuhren die Piraten fort, die Tür einzutreten. Und obgleich das Holz sehr massiv war, hatten sie schließlich Erfolg.
Das Holz splitterte. Noch zwei wuchtige Tritte, und das Türblatt flog nach innen.
Der Mann mit der Pistole verschwand als erster in der Kajüte, die anderen beiden gleich nach ihm.
Mehrere Sekunden lang hörten Mick Boulder und die beiden Friedman-Sisters Kampfgeräusche. Als es dann still wurde, ahnten sie, daß ihr Freund den Kampf verloren hatte.
Die Ahnungen trogen sie nicht. Die Haitianer tauchten wieder auf und kamen an Deck.
Ohne die Gefangenen zu beachten, machten sie sich an den Segeln zu schaffen.
Kurz darauf schlug die ›Happy Dutchman‹ einen neuen Kurs ein.
Sie nahmen Kurs auf die Ortschaft Desirée…
***
Mit einer Maschine der Caribean Airways flogen Professor Zamorra und Nicole Duval von Miami nach Port-au-Prince, Haiti. Langdon Croce war mit von der Partie. Der Mann vom New York Observer wollte es sich nicht nehmen lassen, diesen Fall so gründlich wie möglich zu recherchieren. Und da er den Ruf des Professors kannte, war er sich ganz sicher, daß er in seiner unmittelbaren Nähe stets am Brennpunkt des Geschehens sein würde. Zamorra hatte gegen die Begleitung des Journalisten nichts einzuwenden.
Der Flug war ein bißchen abenteuerlich. Die Caribean Airways war eine Chartergesellschaft, deren Flugzeuge jede halbwegs vernünftige IATA-Gesellschaft längst ausrangiert hätte. Tatsächlich hatte die CAW ihre Maschinen auch von einer der großen US-Liniengesellschaften erworben. Und das vor mehr als zehn Jahren. Entsprechend war das Flugverhalten des Seelenverkäufers. Zamorra, ein Mann, der den Erdball schon unzählige Male umkreist hatte und Fliegen als etwas völlig Selbstverständliches betrachtete, mußte beim Bordwhisky Zuflucht suchen, um ohne Nervenknacks in Port-au-Prince anzukommen.
Wider Erwarten landete die Maschine dann tatsächlich auf dem internationalen Flughafen der haitianischen Hauptstadt. Mit weichen Beinen gingen die Passagiere von Bord. Tröstlich war vielleicht der Anblick von Pilot und Copilot. Die beiden schienen ebenfalls unter ihren Flugkünsten gelitten zu haben, machten sie doch einen durchaus angetrunkenen Eindruck.
Zamorra war nicht das erste Mal in Haiti.
»Laßt euch ins Hotel Dubois bringen«, sagte er zu Nicole und Croce, als sie vor dem Taxistand standen.
»Du kommst nicht mit uns?« wunderte sich das Mädchen.
»Nein, ich will möglichst wenig Zeit verlieren. Noch haben die Behörden keinen Feierabend gemacht. Gute Aussichten also, noch im Innenministerium anzukommen.«
Winkend hob Zamorra die Hand. Er überließ Nicole die Koffer und stieg in eine Taxe.
»Zur französischen Botschaft.«
Der Professor war ein erfahrener Mann. Er kannte sich aus mit der Bürokratie, insbesondere mit Regierungsbürokratien. Sein
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