0120 - Die Stunde der Vampire
Wangen.
»Weißt du, Chef«, sagte sie, »zu Hause ist es doch immer noch am schönsten.«
Dem konnte der Professor nur beipflichten. Bis vor ein paar Tagen waren er und Nicole in London gewesen, wo sie sich mit einem gefährlichen Dämon herumgeschlagen hatten. Aber es war nicht allein der Unhold aus der jenseitigen Welt gewesen, der ihnen zu schaffen gemacht hatte. Das Gewühl und die Hektik der Millionenstadt an der Themse waren nicht weniger anstrengend gewesen. Ganz zu schweigen von dem ewigen Nebel, der geradezu ein Markenzeichen Londons war.
»Sofern nichts Unvorhergesehens dazwischenkommt, werden wir in den nächsten Wochen das Château nicht verlassen«, versprach Zamorra Nicole. »Ich muß sowieso langsam mit meinem neuen Buch anfangen. Sonst bekomme ich Krach mit dem Verleger. Würdest du mir mal das Salz rüberreichen, meine Liebe?«
Raffael, der umsichtige und stets korrekt gekleidete Butler des Professors, trat an den Tisch und brachte die Morgenzeitung.
»O je«, seufzte Nicole, »da bin ich ja jetzt wieder abgemeldet.«
Der Professor lachte. »Man muß sich informieren, was in der Welt vorgeht. Aber ich bin sicher, es steht auch einiges über die neuesten Modetorheiten drin. Du willst doch auch auf dem laufenden bleiben, oder? Vielleicht sind inzwischen grüne Perücken in, und du weißt es noch gar nicht.«
Nicole zog einen Schmollmund. Zu Unrecht, fand der Professor. Schließlich war es eine Tatsache, daß sie einen ausgesprochenen Perückentick hatte und es auch kaum eine Boutique gab, die sie ungeschoren ließ.
Raffael räusperte sich.
Zamorra, der sich gerade den Leitartikel zu Gemüte führen wollte, in dem es mal wieder um internationalen Terrorismus ging, blickte hoch.
»Ja, Raffael?«
»Wenn ich mir eine Empfehlung erlauben darf… Auf Seite zwölf steht ein Artikel, der Sie interessieren dürfte.«
»Seite zwölf, aha.«
Der Professor schlug die bezeichnete Seite auf. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit machte Raffael keine Anstalten, sich diskret zu entfernen. Er blieb neben dem Tisch stehen und beobachtete gespannt seinen Brötchengeber.
Es machte Zamorra nichts aus. Er wunderte sich nur. Dieser Artikel mußte es ja wirklich in sich haben.
Und der Artikel hatte es in sich.
Zamorra las: DRACULA IN FLORIDA ip Miami… Ungeheuerliche Dinge taten sich in Cypress Springs, dem mondänen Badeort nördlich von Miami. Mehrere Menschen, Einheimische und Urlauber, wurden von unbekannten Tätern überfallen und nach Vampirart in den Hals gebissen. Einige der Opfer starben auf Grund von Schock und Blutverlust, während von anderen bisher jede Spur fehlt. Überlebende der barbarischen Attacken beschrieben die Täter als ›Gestalten, die die Hölle ausgespuckt hat‹ und berichteten von geheimnisvollen Begleitumständen, die dem gesunden Menschenverstand hohnsprechen. Wenn diese Schilderungen sicherlich auch noch unter dem Eindruck der unfaßbaren Geschehnisse abgegeben wurden, so ist es doch eine Tatsache, daß es der Polizei bisher nicht gelungen ist, Licht in das Dunkel dieser teuflischen Verbrechen zu bringen. Offizielle Stellen halten es für wahrscheinlich, daß Angehörige irgendeiner fanatischen Sekte für die Taten verantwortlich sind, und verweisen in diesem Zusammenhang auf die sogenannte Manson-Familie, deren blutiger Wahnsinn vor Jahren die Weltöffentlichkeit erschütterte. Es bleibt nur zu hoffen, daß die fieberhafte Arbeit der Polizei baldmöglichst von Erfolg gekrönt wird und die abscheulichen Verbrechen eine lückenlose Aufklärung erfahren. Das Schicksal der Verschwundenen berührt uns alle. Im übrigen erhebt sich die Frage, was die Regierungen der westlichen Welt zu tun gedenken, um der immer mehr um sich greifenden Seuche abartigen Sektenunwesens zu begegnen. Scharlatane aller Schattierungen und irrationale Fanatiker…
Den Rest des Artikels überflog Zamorra nur noch. Es kamen keine neuen Fakten mehr. Der Verfasser erging sich nur noch mit erhobenem Zeigefinger in Mahnungen und düsteren Warnungen, die ebenso überflüssig wie unergiebig waren.
Gedankenvoll legte der Professor die Zeitung auf den Frühstückstisch.
»Wirklich so interessant, wie Raffeal sagt?« fragte Nicole neugierig.
»Da, lies selbst.« Zamorra reichte ihr die Zeitung hinüber.
Nicole las. Als sie fertig war, verzog sie den Mund und schüttelte sich.
»In den Hals beißen - wie widerlich! Was sind das nur für Menschen, die so etwas tun?«
»Wenn es Menschen sind«, sagte Zamorra
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