0122 - Nachts, wenn der Todesbote kommt ...
Gedanke, daß vielleicht nichts von diesem Geld ehrlich verdient, sondern samt und sonders gestohlen war, machte sie ganz krank. Unter diesen Umständen ihr Studium an der Harvard-Universität fortzusetzen, erschien ihr undenkbar.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls…
Was sie in der näheren und weiteren Zukunft tun würde, wußte sie jetzt noch nicht. Nach dem Begräbnis ihres Vaters hatte sie nur ein Bedürfnis: Abstand gewinnen, nachdenken, mit sich selbst ins reine kommen.
Diesen Überlegungen folgend hatte sie New York beinahe fluchtartig verlassen und sich in einem kleinen Hotel des Badeorts Greenport auf Long Island eingemietet. Niemand wußte etwas davon - mit Ausnahme einer Nachbarin und der New Yorker City Police, der sie gegebenenfalls noch zur Beantwortung einiger Fragen zur Verfügung stehen mußte.
In der Ruhe Greenports hoffte sie, ihren inneren Frieden wiederzufinden. Den äußeren hatte sie bereits, denn es gab weder Freunde noch Bekannte, die sie mit unechter Anteilnahme oder auch penetranter Neugier plagen konnten.
Mit dem inneren Frieden jedoch haperte es. Die permanente Schlaflosigkeit, unterbrochen von kurzen, alptraumgeplagten Schlummerperioden, sprach eine deutliche Sprache.
Roberta drehte sich auf die andere Seite. Sie dachte an die schönen Tage und Jahre mit ihrem Vater. Aber der Revolver, der plötzlich in seiner Hand auftauchte, ließ auch diese Erinnerung schal werden.
***
Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend sah Buzz Fetterman zu, wie Anthony George seinen Koffer öffnete. Er konnte ziemlich genau erkennen, was der geheimnisvolle Mann machte. Mehrere Laternen, die sie von den umliegenden Gräbern geholt hatten, hellten die nächtliche Dunkelheit auf.
George entnahm dem Koffer ein eigenartig geformtes Gefäß, halb Flasche, halb Vase. Andächtig fast setzte er es neben den Koffer auf den Kiesweg. Wieder griff er in das Gepäckstück, kramte etwas darin herum und förderte einen weiteren Gegenstand zutage: ein Messer!
Unwillkürlich hielt Fetterman die Luft an. Er kannte sich mit Okkultismus nicht aus, hatte das Ganze bisher für puren Blödsinn gehalten. Aber er hatte doch schon mal gehört, daß Beschwörungszeremonien meist mit irgendwelchen Opfern verbunden sein sollten. Ob George jetzt noch ein weißes Kaninchen oder so was aus dem Koffer ziehen würde?
Das tat der unheimliche Mann nicht. Mit dem Messer und dem komischen Behälter in der Hand trat er an den offenen Sarg und beugte sich darüber.
Widerstrebende Gefühle kämpften in Buzz Fetterman miteinander. Einerseits - das gab er ganz offen zu - hatte er Angst. Angst vor dem Unbekannten, Angst vor dem Jenseits, aus dem Luke Giordano zurückkommen sollte. Andererseits aber dachte er auch an die, Million, die sonst für immer verloren sein würde. Und er verspürte auch eine gewisse Neugier in sich, vergleichbar dem Drang eines Halbwüchsigen, sich eine Peep-Show anzusehen, die nicht für jugendliche Augen bestimmt war.
Der Reiz, den das Verbotene ausübte, gewann die Oberhand. Buzz Fetterman widerstand der Versuchung, sich still und heimlich abzusetzen. Statt dessen ging er noch ein Stück näher an den Sarg heran, um alles ganz genau zu sehen.
Und es gab einiges zu sehen…
Anthony George - Fetterman bezweifelte, daß dies der wirkliche Name ihres neuen Partners war, was ihn allerdings nicht weiter kümmerte - schlitzte mit dem Messer das Totenhemd Giordanos auf und legte den Oberkörper frei. Er hatte dabei einige Mühe mit den Armen des Toten, die durch die Leichenstarre hervorgerufen wurde. Dann hob er das Messer.
»Hey«, flüsterte Kevin Plant an Fettermanns Seite, »hast du schon mal was von Frankenstein gehört?«
»Schnauze!« zischte Fetterman zurück. Er wollte jetzt nicht abgelenkt werden.
George machte etwas ganz Makabres. Mit der Messerspitze ritzte er in die Stirn Giordanos ein paar Linien, die sich zu einer Art Stern zusammenfügten. Dasselbe tat er auch auf der Brust des Toten, genau dort, wo das Herz saß. Dann öffnete er den kleinen Flaschenbehälter und schüttete eine rötliche Flüssigkeit auf die Stemmuster. Danach richtete er sich auf.
Fetterman lagen einige Fragen auf der Zunge. Aber er schluckte sie hinunter. Er erkannte, daß er George jetzt nicht stören durfte. Der Fremde bewegte sich wie ein Schlafwandler, so als sei er mit seinen Gedanken weit, weit fort.
In starrer Haltung stand er neben dem Sarg. Er breitete die Arme aus, hielt sie im schrägen Winkel von sich,
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