013 - Der Mann, der alles wußte
ich einen Doppelgänger habe, der seine Frau schlecht behandelt und in Camden Town wohnt«, meinte Merril, als sie zur City zurückfuhren.
Mr. Mann blieb sehr schweigsam und gab nur einsilbige Antworten.
Als sie wieder in seinem Büro ankamen, nahm er die einzelnen Papierfetzen und legte sie auf seinem Schreibtisch sorgfältig zusammen.
Der Brief trug weder Adresse noch Anrede und lautete:
Ihr müßt aus London verschwinden. Mr. Mann hat Euch heute zusammen gesehen. Geht zu der alten Wohnung und wartet auf weitere Nachrichten.
Auch eine Unterschrift fehlte. Mr. Mann und Frank sahen sich an, denn die Schrift verriet die Hand Jasper Coles.
16
Jasper Cole stapfte durch den tiefen Schnee zu dem kleinen Haus, das May Nuttall gemietet hatte. Es stand am Abhang eines Berges, und man hatte von hier aus einen wundervollen Blick auf Chamonix, das unten im Tal lag. Der Schlitten, der ihn vom Bahnhof hierhergebracht hatte, wartete am Fuß des Hügels.
May sah Jasper von der Veranda aus und winkte ihm erfreut zu. Er streifte den Schnee von den Schuhen und eilte die Stufen zur Veranda hinauf.
»Das ist aber eine großartige Überraschung!« sagte sie vergnügt und ging ihm mit ausgestreckten Händen entgegen. Ihre Augen leuchteten glücklich, als sie ihn anschaute.
Sein Gesicht war nicht mehr so bleich wie früher, sondern von der Sonne gebräunt, aber es lag ein gespannter Ausdruck in seinen Zügen.
»Meinst du nicht auch, daß es ziemlich verrückt von mir war, dir hierher nachzureisen?« fragte er etwas verlegen.
»Du bist ein so hartgesottener Junggeselle, Jasper, daß dir alles widerstrebt, was deinen Gewohnheiten widerspricht. Warum bist du denn überhaupt den weiten Weg von Holland hierhergekommen?«
Er folgte ihr in einen gutgeheizten Wohnraum und wärmte seine Hände am Kamin.
»Weißt du das nicht? Deinetwegen bin ich gekommen. Ich wollte dich wiedersehen.«
»Und was machen deine chemischen Experimente?« fragte sie ablenkend.
»Seit letztem Monat habe ich nicht mehr daran gearbeitet. Ich habe mich mit anderen Dingen beschäftigt und gute Erfolge gehabt.«
»Was hast du denn gemacht?« erkundigte sie sich neugierig.
»An einem der nächsten Tage will ich es dir erzählen.«
Jasper war im Hotel des Alpes abgestiegen und wollte eine Woche in Chamonix bleiben. Sie plauderten über das Wetter, über den frühen Schneefall, der das Tal in einen weißen Mantel gehüllt hatte, und über die schlechte Aussicht auf den Montblanc, der sich in der letzten Zeit immer in Nebel und Wolken verbarg. May sprach vom Donnern der Lawinen, das sie hier nachts nicht schlafen ließ, von dem schönen Weg nach Argentières und den Dörfern, die halb im Schnee begraben lagen, von dem hellgrün leuchtenden Eis der großen Gletscher -kurzum von allem, nur nicht von dem, was sie bewegte und all ihre Gedanken erfüllte.
Jasper wagte es schließlich, Franks Besuch in Genf zu erwähnen.
»Woher weißt du denn davon?« fragte sie und wurde plötzlich ernst.
»Es ist mir erzählt worden.«
»Jasper, warst du eigentlich schon in Montreux?« Sie sah ihn gespannt an.
»Ja, ich war in Montreux, oder vielmehr in Caux - das ist das Dorf, das. hoch in den Bergen über Montreux liegt. Man muß Montreux passieren, wenn man es erreichen will. Aber warum fragst du danach?«
Die Freude verschwand aus ihren Augen, und sie hatte plötzlich den unheimlichen Eindruck, daß ein tiefer Abgrund zwischen ihr und ihm lag. Dieses deprimierende Gefühl wich auch in den nächsten Tagen nicht von ihr.
Sie machten zusammen die üblichen Ausflüge und Bergtouren. Am dritten Morgen nach Jaspers Ankunft standen sie auf einer einsamen Höhe und beobachteten, wie die ersten Strahlen der Frühlingssonne den Gipfel des Montblanc mit rötlicher Glut übergossen.
»Oh, wie herrlich!« sagte sie leise. Er nickte.
Die Schönheit der Natur, die Reinheit der Luft, die Majestät der Berge machten tiefen Eindruck auf May. Alle Vorurteile und Hemmungen fielen von ihr ab, und mit einem plötzlichen Entschluß wandte sie sich an ihn.
»Jasper, wer hat John Minute ermordet?«
Er antwortete nicht. Sein Blick hing noch an der Spitze des Montblanc... Erst nach einiger Zeit sprach er mit leiser Stimme.
»Ich weiß, daß der Mörder lebt und in Freiheit ist.«
»Und wer ist es?«
»Wenn du es jetzt noch nicht weißt, wirst du es niemals erfahren.«
Minutenlang schwiegen beide, während das glühende Rot zu goldgelben Tönen verblaßte.
»Bist du direkt oder indirekt
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