0132 - Der Schwarze Graf
Todesschreie. Am nächsten Morgen war der rätselhafte Mann wieder im Dorf erschienen; lächelnd, trotz einer furchtbaren Verletzung.
Und dort, wo sein Blut in den Sand getropft war, stand jetzt die mächtige Kirche Borlezzos…
Lancone war kein Mensch, der diesen alten, romantischen Geschichten Glauben schenkte, die seit Generationen an langen Winterabenden erzählt wurden.
Ebensowenig glaubte er an die mysteriösen Spukgeschichten. Aber jetzt, wo er hier oben war…
Verdammt! ärgerte er sich. Hättest du bloß nicht angefangen, darüber nachzudenken! Jetzt geht es dir nicht mehr aus dem Kopf…
»Eh, Lancone!«
Francisco Piecollo, der von weitem den beiden jungen Leuten zuwinkte, riß ihn jäh aus seinen Gedanken.
»Hier hat sich seit meinem letzten Besuch nicht allzuviel verändert«, rief der Alte ihnen entgegen. »Es ist aber noch ein Teil vom Turm eingestürzt. Dort auf der rechten Seite, seht ihr? Vermutlich durch den Sturm.«
Piecollo stand vor dem mächtig aufragenden, düsteren Turm. Er grinste so unheimlich, daß es Marco Schauer über den Rücken jagte.
»Was machst du denn für ein Gesicht?«
»Kennt ihr denn nicht die Geschichte?«
»Was für eine Geschichte?«
»Es heißt, wenn der Turm bricht, kehren sie zurück…«
»Wer?«
»Jean und Louise d'Alay.«
Eine eiskalte Hand griff nach Lancones Herz…
»Jetzt hör mal zu«, fuhr er den Alten an. »Wir sind nicht hier, um uns deine verfluchten Hirngespinste anzuhören. Mir steht der ganze Mist…«
Piecollo schüttelte sich vor Lachen. Marco blickte hilfesuchend seinen Kollegen an.
»Laß ihn nur«, sagte Louis Walther ruhig. »Du nimmst das alles viel zu ernst, Marco.«
Er wandte sich dem Alten zu.
»Und sonst ist dir nichts weiter aufgefallen, Piecollo? Jetzt mal ernsthaft.«
»Nein. Nichts weiter.«
»Aber es könnte sich in der Ruine jemand über längere Zeit versteckt halten?«
»Sicher, denn die Burg ist weitaus größer, als man von außen den Eindruck hat. Es gibt nämlich eine große unterirdische Anlage, die man über einen Gang erreichen kann, der direkt in den Berg hinabführt. Da unten könnte man niemals gefunden werden, zumal ja sowieso keiner hier raufkommt.«
Der Alte bemerkte die erstaunten Gesichter der beiden jungen Leute.
»Ja, ich bin der einzige Mensch, der von der Existenz dieser Anlage weiß. Ich werde sie euch zeigen. Wenn hier oben schon nichts zu holen war, findet ihr vielleicht dort Hinweise auf euren… Verrückten.«
Lancone fiel die besondere Betonung auf, die Piecollo auf das letzte Wort gelegt hatte.
Warum verhielt sich der Alte bloß so schleierhaft?
Marco machte wohl ein ziemlich hilfloses Gesicht.
Jedenfalls klopfte ihm Louis Walther ermunternd auf die Schulter. »Komm, alter Junge! Bringen wir's hinter uns.«
»Das müssen wir wohl…«, seufzte Lancone und bewegte sich äußerst widerstrebend auf die Stelle zu, an der Piecollo im Gemäuer verschwunden war.
Du lieber Himmel, es gibt wohl keinen Menschen in Borlezzo, der jetzt mit dir tauschen möchte! dachte der Carabinieri, als er in die Schwärze des Ganges blickte, der sich vor ihm auftat…
***
Die beiden Beamten mußten feststellen, daß der Einstieg gar nicht so leicht zu finden gewesen wäre, denn er war zur Hälfte vom Trümmerschutt des Turmes verdeckt und fast völlig von Efeu überwuchert.
»Wo bleibt ihr denn?« hallte ihnen die Stimme Piecollos aus der Dunkelheit entgegen.
»Na denn«, sagte Lancone zu sich selbst, winkte Louis Walther, ihm zu folgen und tat den ersten Schritt…
Das Innere des Gemäuers zeigte sich tatsächlich viel größer und weiträumiger, als es von außen den Anschein hatte. Die meisten der ungezählten, verzweigten Räume waren noch in sehr gutem Zustand; an einigen Wänden befanden sich Halterungen, in denen wohl einmal Pechfackeln gesteckt haben mußten, denn schwarze, rußige Schlieren zogen sich bis hinauf zur Decke.
Die Stille war bedrückend. Kein Lüftchen regte sich. Nur das Knirschen ihrer schweren Stiefel auf dem sandigen Boden war zu vernehmen. Bisher hatten sich noch keinerlei Spuren gezeigt.
»Hier entlang!« Francisco Piecollo führte absolut sicher. Eigentlich schon ein bißchen zu sicher…
»Man sollte fast glauben, du bist hier zu Hause«, wunderte sich Lancone deshalb nicht ohne Grund.
Ein schauerliches Lachen des Alten blieb die einzige Antwort. Lancone hatte den Nagel auf den Kopf getroffen…
Je tiefer die Männer in das Innere der Burg vordrangen, desto weniger
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