0135 - Die unheimliche Gräfin
später fiel das Tor polternd zu. Sally Buzzell konnte ihren Lauf nicht mehr stoppen.
Sie prallte gegen die geschlossenen Flügel. Ein heftiger Schmerz durchzuckte sie. Tränén der Verzweiflung schossen ihr in die Augen. Sie sank langsam zu Boden und fing haltlos zu weinen an.
Doch davon ließen Zepar und Taras sich nicht beeindrucken. Sie holten das Mädchen und brachten es ins Schloß.
Im großen Rittersaal blieben die Diener der unheimlichen Gräfin mit Sally stehen. Direkt vor der breiten Steintreppe, die zum Obergeschoß hinaufführte, hielten sie an.
Der Saal war von einem gespenstischen Licht erhellt. An den Wänden hingen riesige Gemälde. Zumeist waren es Porträts, die die verblichenen Besitzer von Watford Castle zeigten.
Über einem großen, offenen Kamin hingen Speere und Schwerter, die die Watfords einst in den Kriegen geführt hatten.
Heute dienten sie nur noch dekorativen Zwecken.
Sally Buzzell vernahm ein spukhaftes Knistern. Sie hob den Blick. Über der steinernen Balustrade erschien ein Glutpunkt, der schwarz ummantelt war.
Mit unvorstellbarer Schnelligkeit vergrößerte sich die Glut, und plötzlich schälte sich aus ihm Jorma Maduse, die unheimliche Gräfin.
Sie war schwarz gekleidet. Ihr Gesicht war bleich und knöchern. Gemein war der Ausdruck ihrer dunklen Augen.
Die Gräfin war von großer, hagerer Gestalt. Jegliche Art von Mitgefühl schien ihr fremd zu sein. Sie wirkte grausam und abgrundtief böse.
Ein höhnisches Grinsen verzerrte für einen Augenblick das faltige Gesicht der Erscheinung, deren graues Haar widerlich borstig aussah.
Triumph flackerte in Jorma Maduses Augen. »Zepar! Taras!« rief sie mit schriller Stimme. »Ich bin mit euch zufrieden!«
Die Diener neigten die bleichen Knochenschädel.
»Ihr habt ein bildhübsches Mädchen für mich ausgesucht!« lobte die unheimliche Gräfin.
Sally Buzzell wurde von panischer Furcht geschüttelt. Dennoch fand sie den Mut zu fragen: »Was haben Sie mit mir vor? Warum wurde ich auf dieses Schloß verschleppt?«
Die Gräfin lachte gehässig. »Das kann ich dir mit wenigen Worten erklären, mein Kind: Ich werde dir eine magische Spezialbehandlung angedeihen lassen, damit du mir in deinem Wesen so ähnlich wie möglich wirst. Sobald dies erreicht ist, wird sich mein Geist in deinen Körper versenken…«
»Aber warum denn?«
»Damit ich die Menschen täuschen kann. Jeder wird auf dein reines Engelsgesicht hereinfallen. Niemand wird Jorma Maduse in dir vermuten. Freue dich, mein Kind! Schon bald werden wir beide in Dunstable Taten vollbringen, von denen noch in hundert Jahren die Rede sein wird!«
Sally Buzzell schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich will das nicht. Ich will das doch nicht!«
Die Gräfin grinste. »Wer fragt schon danach, was du willst, Mädchen? Merke dir eines für die Zukunft: Es ist nur noch Jorma Maduses Wille, der zählt!«
»Oh, ich hasse Sie…!« schrie Sally schluchzend. »Ich wollte, ich wäre in der Lage, Sie zu töten!«
Jorma Maduse kicherte. »Das gelingt keinem, meine Liebe. Du mußt dich wohl oder übel mit deinem Schicksal abfinden.« Die unheimliche Gräfin schnippte mit den Fingern. »Ab mit ihr ins Verlies!« befahl sie ihren Dienern. »Ich werde mich ihr zu gegebener Zeit widmen!«
Zepar und Taras packten das Mädchen.
Sally Buzzell setzte sich verzweifelt zur Wehr. Sie stemmte ihre Füße gegen den Boden, doch die Knochenmänner machten kurzen Prozeß mit ihr.
Sie rissen Sally hoch und trugen sie fort. Ihre gellenden Hilfeschreie hörte außer der unheimlichen Gräfin und ihren Dienern niemand.
Zepar und Taras schleppten das Mädchen durch einen feuchten Gang. Wenig später warfen sie Sally Buzzell in einen finsteren Kerker.
Das Mädchen landete hart auf dem Boden. Hinter ihr knallte die schwere Tür zu. Ein mächtiger Schlüssel wurde im Schloß herumgedreht.
Dann war Sally Buzzell allein. Allein mit ihrer schrecklichen Angst. Allein mit ihrer Furcht vor dem, was die Zukunft ihr bringen würde.
Bibbernd kroch sie durch die Dunkelheit. Kerbtiere krabbelten über ihre Finger. Sie lehnte sich an die naßkalte Wand.
Durch die Finsternis huschten fiepende Ratten, die gegen die nächtliche Störung protestierten.
Wieder begann Sally Buzzell zu weinen. Sie konnte nicht anders. Es war ihr nicht möglich, die Tränen zurückzuhalten.
Es gibt wohl nicht viele Mädchen, die in dieser Situation nicht geweint hätten…
***
Am nächsten Morgen hingen bleigraue Wolken am Himmel. Es war
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