014 - Das Geheimnis der gelben Narzissen
Narzissen auf seine Brust gelegt. So etwas kann nur eine Frau getan haben«, fügte er plötzlich hinzu.
Tarling sah ihn groß an.
»Warum meinen Sie das?«
»Nur eine Frau konnte dem Toten Blumen auf die Brust legen«, sagte Whiteside ruhig. »Diese gelben Narzissen sprechen von Mitgefühl und Mitleid - vielleicht auch von Reue.«
Tarling lächelte unmerklich.
»Mein lieber Whiteside, nun werden Sie sentimental.« Er blickte auf. »Sehen Sie einmal, wie von diesem Platz angezogen, taucht wieder der Herr auf, den ich überall treffen muß - Mr. Milburgh.«
Milburgh war plötzlich stehengeblieben, als er die beiden Detektive bemerkte. Man konnte ihm ansehen, daß er am liebsten unbemerkt verschwunden wäre. Aber Tarling hatte ihn bereits entdeckt, und so kam er nun in einem merkwürdig schleichenden Gang näher. Obwohl er seine Verlegenheit unter einem Lächeln zu verbergen suchte, erkannte Tarling doch den ängstlichen, unsicheren Blick wieder, den er schon früher einmal an ihm beobachtet hatte.
»Guten Morgen, meine Herren«, sagte Milburgh und grüßte die beiden, indem er den Hut abnahm. »Etwas Neues ist wohl noch nicht entdeckt worden?«
»Auf jeden Fall hatte ich nicht erwartet, Sie heute morgen hier zu entdecken!« erwiderte Tarling mit einem spöttischen Lächeln. »Ich dachte, Sie hätten im Geschäft genug zu tun.«
Milburgh fühlte sich unbehaglich.
»Dieser Ort übt eine gewisse Anziehungskraft auf mich aus«, sagte er dann heiser. »Immer wieder treibt es mich, hierher zu kommen.«
Als Tarling ihn scharf ansah, senkte er verlegen den Blick.
»Haben Sie irgendwelche neuen Nachrichten über den Täter?« fragte er wieder.
»Das möchte ich Sie fragen«, entgegnete Tarling ruhig.
Milburgh sah ihn nervös an.
»Sie meinen doch nicht etwa Miss Rider?« fragte er. »Nein, Mr. Tarling, es hat sich nichts gefunden, was gegen sie spräche. Ich kann aber ihren gegenwärtigen Aufenthalt nicht feststellen, obgleich ich mir die größte Mühe gegeben habe. Es ist wirklich beunruhigend.«
Tarling bemerkte eine Änderung in seinem Verhalten. Er konnte sich noch sehr gut darauf besinnen, wie Milburgh Lyne gegenüber zuerst entschieden in Abrede stellte, daß Odette gestohlen haben könne, Aber jetzt war er ihr irgendwie feindlich gesinnt, der Unterton in seiner Stimme sagte Tarling genug. »Glauben Sie denn, daß Miss Rider Grund hatte zu fliehen?« Milburgh zuckte die Schultern.
»In dieser Welt«, meinte er salbungsvoll, »wird man immer von denen am meisten getäuscht, denen man das größte Vertrauen geschenkt hat.«
»Sie wollen also damit sagen, daß Sie Miss Rider im Verdacht haben, daß sie die Firma beraubt hat?«
Aber sogleich erhob Milburgh abwehrend seine großen Hände. »Nein, das will ich nicht behaupten. Ich möchte eine junge Dame nicht anklagen, daß sie ihre Vorgesetzten in einer solchen Weise betrogen hat, und ich lehne es ausdrücklich ab, irgendwelche Anschuldigungen zu erheben, bevor die Bücherrevisoren nicht ihre Arbeit beendet haben. Zweifellos«, fügte er hinzu, »hat Miss Rider große Summen in der Hand gehabt und war zuerst von allen Damen an der Kasse in der Lage, irgendwelche Unterschlagungen zu machen, ohne daß ich oder Mr. Lyne es gleich hätten merken können. Aber dieses teile ich Ihnen nur im Vertrauen mit.«
»Haben Sie keine Ahnung, wo sie sein könnte?«
Milburgh schüttelte den Kopf.
»Das einzige, was ich -«, er zögerte und sah Tarling unsicher an.
»Nun, was wollten Sie sagen?« fragte der Detektiv ungeduldig.
»Es ist allerdings nur eine Vermutung von mir, daß sie vielleicht außer Landes gegangen ist. Ich möchte unter keinen Umständen diese Behauptung aufstellen, ich weiß nur, daß sie sehr gut französisch sprach und auch schon früher auf dem Festland war.«
Tarling schaute ihn nachdenklich an.
»Nun, in diesem Fall muß ich eben den Kontinent absuchen lassen. Denn ich bin fest entschlossen, Odette Rider aufzufinden.«
Er winkte seinem Assistenten und drehte sich kurz um. Mr. Milburgh schaute betroffen hinter ihm her.
10
Tarling kam am Nachmittag in niedergeschlagener Stimmung heim. Dieser Fall gab ihm so viele Rätsel auf, daß er sich im Augenblick nicht zu helfen wußte. Ling Chu kannte von früher her solche Depressionen bei seinem Herrn. Aber diesmal entdeckte er etwas Neues in dessen Verhalten. Er erschien ihm unnötig erregt, und er glaubte eine Ängstlichkeit an ihm wahrzunehmen, die diesem Jäger der Menschen bisher vollständig
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