0141 - Die Hexe vom Schädelfelsen
heimgesucht werden sollten. Niemand war auf den Straßen zu sehen. Hinter den Fenstern der Häuser brannten keine Lichter. Nur hin und wieder klirrten die eisernen Stiefel einer Patrouille über die Pflastersteine, und zuweilen zog ein fliegender Teppich seine Bahn. Jedesmal in solchen Momenten verschwanden die Priesterin und ihre drei Beschützer, verschmolzen förmlich mit der Umgebung, ihre Fähigkeit der teilweisen Mimikry bis zum Äußersten ausnutzend.
Wenn die »Gefahr« vorüber war, bewegten sie sich ungesehen weiter. Und dann endlich erreichten sie ein Gasthaus, das noch geöffnet war.
Die Priesterin sah nach dem Stand der Sterne. Im Grunde war es ungewöhnlich, daß alle anderen Schänken zu dieser Zeit bereits geschlossen hatten, daß die Stadt in tiefem Schlaf lag. Aber vielleicht lag es daran, daß die Menschen am nächsten Tag voll bei der Sache sein wollten, wenn es galt, über den Mörder Camorans zu Gericht zu sitzen. Die Priesterin entsann sich, daß der Adept verkündet hatte, bei Tagesanbruch solle das Gericht zusammentreten und den Mörder für schuldig befinden, daß er in der Mittagsstunde dem Tode überantwortet werden könne.
Sei es wie es sei - hier bot sich eine Möglichkeit, an frisches Blut zu gelangen, ohne in ein Haus einsteigen zu müssen.
»Eindringen?« fragte einer der drei Vampire flüsternd an. Doch die Priesterin schüttelte den Kopf. Ihre Eckzähne wuchsen und lagen nun frei.
»Wir warten, bis einer die Schänke verläßt«, zischte sie.
Sie brauchten nicht lange zu warten. Den Stimmen nach befanden sich nur noch wenige Gäste im Innern. Endlich öffnete sich die Tür, und ein junger Mann trat ins Freie.
In diesem Moment begann für Nicole Duval das namenlose Grauen…
***
Der Jüngling hatte offenbar ein wenig getrunken. Er schwankte leicht, als er ins Freie trat, und hielt sich am Geländer der Dreistufentreppe fest. Ein paar tiefe Atemzüge, dann setzte er langsam einen Fuß vor den anderen und wurde dabei immer sicherer in seinen Bewegungen.
Die Priesterin hob die Hand.
Blitzschnell sprangen zwei ihrer Gardisten vor und auf den jungen Mann zu. Der dritte Vampir sicherte die Umgebung. Er würde nur eingreifen, wenn die Situation es erforderte.
Eine Hand legte sich auf den Mund des Mannes, der um Hilfe rufen wollte, eine andere spannte sich wie ein Schraubstock um die Hand mit dem trotz der leichten Trunkenheit blitzartig gezogenen Dolch und zwang sie, den Griff um die Waffe zu lösen. Die anderen Hände hatten ihn bei den Schultern gefaßt und hielten ihn in eisernem Griff. Eine Hand faßte in sein Genick und lähmte sekundenlang das Nervensystem; als sie ihn wieder freigab, taumelte der Mann benommen und war unfähig, sofort die Flucht zu ergreifen.
Die Priesterin lächelte diabolisch. Sie musterte den Mann. Sein Blut mußte gut sein, sie spürte es, fühlte förmlich, wie es durch seine Adern pulsierte. Ihre Hand griff nach seiner Stirn und drückte seinen Kopf zurück. Die langen Eckzähne näherten sich der Halsschlagader…
***
»Nein!«
Wer hatte es geschrien - die Priesterin in ihrer maßlosen Überraschung, oder Nicole Duval in ihrem spontanen Entsetzen? Auf jeden Fall hallte der wütende Schrei durch die Nacht.
Von einem Moment zum anderen war Nicole aus ihrem Dahindämmern aufgepeitscht worden. Der Blutdurst, die Lust am Morden in der Priesterin des Blutes hatte sie trotz ihrer Insichabgeschiedenheit aufgepeitscht. Und als sie ihre Augen öffnete und sich in das Sehvermögen des Gemeinschaftskörpers wieder einschaltete, erkannte sie die gespannte Schlagader direkt vor sich und begriff auch, daß sie gerade zubeißen wollte.
»Nein!«
»Verfluchte!« gellte der Ruf. Eine rasche Bewegung stieß den Mann zurück, der nicht wußte, wie ihm geschah. Auch die beiden Vampire kamen sekundenlang ins Taumeln.
Nicole war außer sich. Es war ihr, als seien es ihre ureigensten Zähne gewesen, die sich in den Hals des Mannes bohren sollten, um seine Schlagader zu öffnen. Sie empfand nichts als Ekel und Abscheu bei der Vorstellung. Sie war doch kein Vampir!
Du nicht, Biest, aber ich! gellte es in ihr. Verdammt, was tust du? Laß mich!
Da erst begriff Nicole, was wirklich geschah. Begriff, daß sie zumindest teilweise Kontrolle über den Körper erhalten hatte!
»So schnell bekommst du mich nicht klein«, schrie sie.
»Er darf nicht entkommen!« kreischte die Priesterin dazwischen. »Haltet ihn!«
Der Befehl galt den Vampiren, aus deren Griff sich der
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