015 - Die Heiler
»Himmelskugeln«.
Er war während seiner Europareise nur kurz durch Belgien gefahren und hatte so gut wie nichts von dem Land gesehen. In seiner Erinnerung reduzierte sich der kleine Staat auf Autobahnen und Gasthöfe, in denen man Fritten essen und Obstbier trinken konnte. Auch das Atomium kannte er nur von Fotos.
Doch eins wusste er sehr genau: Das Atomium stand in Brüssel. Um ihn herum befand sich aber nichts außer Wald und Gras.
Wo war die Stadt?
Matt hatte bereits eine Reihe von Großstädten der neuen Welt gesehen, und der Anblick - ob sie nun Romaa oder Beelinn oder Parii genannt wurden - unterschied sich nur unwesentlich voneinander. Verfallene Ruinen, in denen Menschen hausten, zerstörte Straßen, auf denen Unkraut wucherte, Ungeziefer und Gefahren. Die Städte der Zukunft waren nun wirklich keine angenehmen Orte, aber sie waren zumindest noch da.
Matthew dachte an die Mauerreste, die er im Wald gesehen hatte. War das etwa alles, was von Brüssel übrig geblieben war? Wie war das möglich?
Er drehte sich zu seinem Begleiter um.
»Brüssel?«, fragte er.
Der Mann nickte ungeduldig und deutete wieder auf das Atomium. Matt war sich nicht sicher, ob er die Frage verstanden hatte oder ihn einfach nur loswerden wollte.
»Tenk«, sagte er trotzdem zum Dank für die Führung des Jägers. Der Hüne grunzte und verschwand ohne einen weiteren Abschied im Wald. Er machte nicht den Eindruck, als bedaure er, schweigen zu müssen.
Auch gut, dachte Matt und stieg auf den Frekkeuscher. Vorsichtig richtete er Aruula auf und legte den Arm um ihren zitternden, schweißnassen Körper, damit sie seine Nähe spürte. Mit der linken Hand ergriff er die Zügel und trieb das Rieseninsekt an.
Matt hatte einmal gelesen, dass selbst Menschen, die im Koma liegen, bemerken, wenn jemand mit ihnen spricht.
Er wusste nicht, ob das stimmte, aber er war bereit, alles zu versuchen, um Aruula bei ihrem Kampf gegen den Tod zu unterstützen. Und wenn es nur der Klang seiner Stimme war.
***
Aruula träumte.
»Du musst dich allmählich entscheiden«, sagte ihre Mutter, während sie den Kamm gleichmäßig durch das lange Haar ihrer Tochter gleiten ließ. »Immerhin liegt dein vierzehnter Winter vor dir.«
Aruula seufzte. »Ich weiß, Mutter, aber die Wahl fällt mir nicht leicht. Entweder sind die Jungen dumm oder hässlich.«
»Rogad ist nicht hässlich.«
»Aber dumm«, konterte Aruula spontan, runzelte dann jedoch die Stirn. »Nein, dumm ist er eigentlich nicht, nur furchtbar ungeschickt.«
Sie sah ihre Mutter durch das polierte Metall, das als Spiegel diente, an. »Meinst du, er wäre der richtige Mann für mich?«
»Es ist dein Leben. Du musst mit ihm glücklich werden.«
Bist du denn glücklich?, wollte Aruula fragen, verkniff sich die Bemerkung jedoch.
Seit fast zehn Wintern lebte ihre Mutter nur mit ihr und ihren Geschwistern zusammen. Der Tod ihres Mannes hatte eine tiefe Lücke in ihr Leben gerissen, aber während die meisten anderen Frauen, deren Männer bei dem Unglück ums Leben gekommen waren, längst wieder geheiratet hatten, blieb sie allein.
Aruula fragte sich manchmal, ob ihre Mutter trotz der vier Kinder einsam war.
An diesem Tag jedoch drehten sich Aruulas Gedanken nur um sie selbst.
Die Priester Udiks und die weisen Frauen hatten entschieden, dass die Zeit für sie gekommen sei, einen Mann zu erwählen und zu heiraten.
Wie die Tradition es verlangte, hatten die weisen Frauen die Unterwelt und die Ahnen befragt, während die Priester die Götter um Rat baten. Kurz darauf präsentierten sie eine Liste der geeigneten Kandidaten, die Aruula nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hinriss. Die Götter und Ahnen meinten vielleicht, diese fünf Männer wären für sie geeignet - sie selbst war da ganz anderer Ansicht.
Wenn sie jedoch sich selbst gegenüber ehrlich war, dann musste sie zugeben, dass es egal war, welche Namen auf der Liste standen. Sie wollte keinen der Männer aus dem Volk der dreizehn Inseln.
Das war auch der Grund, warum die Priester eingegriffen hatte, denn normalerweise heiratete ein Mädchen nach ihrem zwölften Winter.
Aruula war es bisher gelungen, dieser Falle erfolgreich aus dem Weg zu gehen, aber damit hatte sie das Unvermeidliche nur hinaus gezögert.
Das Dorf wünschte ihre Vermählung, und zwar aus durchaus eigennützigen Motiven. Zum einen war eine unverheiratete hübsche Frau eine wandelnde Versuchung für verheiratete Männer, zum anderen gab sie ein schlechtes Beispiel
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