015 - Die Heiler
jedem Tag ein Stückchen näher kam.
Jon schätzte, dass es draußen beinahe fünfzig Grad unter Null war, im Inneren des Atomiums vielleicht dreißig Grad wärmer.
»Niemand wird sterben«, widersprach er so laut, wie es seine Halsschmerzen zuließen.
»Wir werden den Winter überleben.«
Keiner antwortete. Sie alle wussten, dass nicht nur die Kälte, sondern auch die Vorräte über Leben und Tod entschieden.
Bis vor zwei Monaten hatten sie noch regelmäßige Expeditionen in die Umgebung unternommen und nach Essbarem gesucht. Besonders in Supermärkten, die außerhalb der zerstörten Stadt lagen, hatten sie ihre Vorräte auffüllen können.
Doch damit war längst Schluss. Der Kälteeinbruch, der sie Ende Oktober vollkommen überrascht hatte, war ihnen zuvorgekommen.
Niemand von ihnen wagte sich mehr in die dunkle Außenwelt, wo es so kalt war, dass ungeschützte Körperstellen innerhalb von Minuten erfroren. Dafür fehlte der Gruppe einfach die Ausrüstung.
Jon wusste, dass sie bisher nur überlebt hatten, weil sie medizinisch so gut versorgt waren. Aus diesem Grund hatte er auch gegen eine ärztliche Versorgung der Bevölkerung plädiert. Er hatte Angst, dass sich die Neuigkeit herumsprach und erneut Plünderer auftauchten. Aber ausnahmsweise hatte er sich damit nicht durchsetzen können.
Seine Kollegen bestanden darauf, jedem zu helfen, der darum bat. Raoul hatte sogar argumentiert, sie müssten das tun, da sie sich sonst der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machten. Dafür könne man sie schließlich zur Verantwortung ziehen.
Idioten, dachte Jon abfällig und sah sich in der kleinen Runde um.
Manchmal glaubte er, dass niemand außer ihm begriffen hatte, was wirklich mit der Welt geschehen war. Menschen wie Marie oder Raoul klammerten sich immer noch an die Hoffnung, dass eines Tages die Normalität mit all ihren Straßenbahnen, Versicherungen und Fernsehern zurückkehren würden. Marie glaubte sogar, dass das Kind, das sie schon bald austragen würde, einmal eine Schule besuchen und studieren konnte.
Aber dem war nicht so. Diese Welt gehörte der Vergangenheit an. Die Zukunft waren menschenleere Eiswüsten, Hunger und Tod.
Wer darin überleben wollte, musste die alten Werte über Bord werfen und zu einem neuen Menschen werden.
So wie er es getan hatte. Den Anfang hatte er vor acht Monaten gemacht, als er seine schärfste Kritikerin Danielle mit Psychopharmaka fütterte und in eine Kammer sperrte. Es war bestimmt nicht nett gewesen, den anderen gegenüber zu behaupten, sie habe den Verstand verloren und müsse »zu ihrem eigenen Besten« isoliert werden, aber es war notwendig gewesen.
Und Notwendigkeit war der einzige Wert, den Jon noch anerkannte.
»Da unten ist jemand«, sagte Lieve, eine der Krankenschwestern, die auf ihrem Beobachtungsposten am Fenster stand.
Jon stand auf und ging zu ihr hinüber. Tief unter der Kugel wurde ein kleines Lagefeuer angezündet. In seinem Schein konnte Jon einige vermummte Gestalten erkennen, die sich darum versammelt hatten. Eine der Gestalten schwenkte eine Fackel, um die Aufmerksamkeit der Ärzte zu erregen.
Der Anblick löste in Jon eine plötzliche Wut aus. Wie konnten sie es wagen, von ihnen Hilfe zu verlangen, wo die Ärzte doch selbst kurz vor dem Tod standen!
Er zog Lieve die Decke von den Schultern, ignorierte ihre Proteste und rannte wortlos aus dem Zimmer. Einige Kollegen standen auf und folgten ihm langsamer.
Jon stürmte durch den Gang bis zu dem Punkt, wo Raoul kurz nach ihrem Einzug das Korbliftsystem aufgebaut hatte. Es war ebenso primitiv wie wirkungsvoll. Der Lift wurde mit Hilfe eines Flaschenzugs bewegt und durch eine Luke im Boden nach unten gelassen.
Jetzt war die Luke jedoch wegen der Kälte verschlossen und mit Stoffresten abgedichtet.
Jon riss den Stoff aus den Fugen und öffnete die Luke. Die eisige Luft, die ihm entgegen schlug, raubte ihm für einen Moment den Atem. Tranen schossen aus seinen Augen und gefroren auf den Wangen.
»Was wollt ihr?! Verschwindet!«, schrie er heiser nach unten.
Vier Vermummte erhoben sich. Nur der fünfte blieb sitzen.
»Meine Frau hat schwere Erfrierungen!«, rief ein Mann zurück. »Sie braucht Hilfe!«
»Das ist mir egal! Wir haben selber nichts!«
»Jon«, mahnte der Internist François. »Wir haben mehr als genug Medikamente. Schick die Leute nicht weg.«
Der Chirurg warf ihm einen wütenden Blick zu. »Misch dich nicht in meine Angelegenheiten«, zischte er. François wich
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