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015 - Die Heiler

015 - Die Heiler

Titel: 015 - Die Heiler
Autoren: Claudia Kern
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aufgetaucht und wurde am Seil herunter gelassen.
    Tschak stand auf.
    Einige Männer griffen nach der Trage, als sie niedrig genug war, und setzten sie vorsichtig ab.
    Ruut stützte sich auf die Ellbogen und schwang die Beine über den Rand. Die Männer wollten ihm beim Aufstehen helfen, aber er schüttelte nur den Kopf und kam schwankend hoch.
    Ruut war geheilt.
    ***
    Brüssel, 30. Mai 2021
    Ächzend erhob sich Danielle von ihrem Feldbett.
    Ihr Rücken schmerzte, die Knie knirschten und das lange Kleid, das sie trug, spannte sich so eng über ihrem Bauch, dass schon mehrere Knöpfe abgerissen waren.
    So war es jedes Mal, aber Danielle fand nichts mehr dabei.
    Sie legte eine Hand auf ihren Kugelbauch, der so stark vorstand, als habe sie einen Medizinball verschluckt, und spürte das Leben, das sich darunter regte. Aus Erfahrung wusste sie, dass es nur noch wenige Tage bis zur Geburt waren.
    Wieso tue ich mir das an?, fragte sie sich plötzlich, aber der Gedanke verschwand so schnell, dass sie ihn nicht mehr greifen konnte. Danielle legte sich den schweren Mantel um ihre Schultern und schlurfte durch den Gang in Richtung des Gemeinruums.
    Es war kalt im Atonum. Ihr Atem stand als weiße Wolke vor ihrem Gesicht. Jon hatte ihr erklärt, warum das so war, aber so sehr sich Danielle auch bemühte, es fiel ihr nicht mehr ein.
    Das geschah in letzter Zeit häufig. Sie vergaß Dinge, die ihr früher selbstverständlich erschienen waren. Auch das Leben, das sie vor der Katastrophe gelebt hatte, spukte nur noch als eine Abfolge verschwommener Bilder durch ihr Gedächtnis.
    Danielle betrat den Gemeinruum. Zwei andere hochschwangere Frauen, Marie und Lieve, nickten ihr freundlich zu, als sie sich mühsam auf einem Stuhl niederließ und nach dem Kugelschreiber griff, der vor ihr lag. Einen Moment betrachtete sie den Stift, unsicher, wie sie ihn bedienen sollte.
    »Tu muust af dje Spize druckn«, sagte Marie hilfreich.
    Danielle lächelte sie dankbar an und drückte auf die Spitze des Kugelschreibers.
    Marie war ihre beste Freundin. Sie war auch die Einzige in der Gruppe, mit der Danielle noch reden konnte, denn alle anderen verstanden ihre Worte nicht mehr. Nur Marie sprach genau so wie sie.
    Danielle nahm ein Blatt Papier, legte es vor sich und zog die Buchseiten heran, die sie abzuschreiben hatte. Das war eine wichtige Aufgabe, die sie gemeinsam mit den anderen schwangeren Frauen erledigen musste.
    Jon wollte, dass sie möglichst viele Kopien eines Buchs erstellten, das er
    »Medzinlexikoon« nannte. Daraus las er der Gruppe jeden Abend vor, auch wenn er nicht immer alle Worte richtig aussprechen konnte.
    Aus den Kopien sollten die Mütter ihren Kindern vorlesen, damit das Wissen um die Medzin nicht verloren ging.
    Danielle erledigte diese Arbeit sehr gerne. Es war zwar schwierig, die vielen verschiedenen Buchstaben voneinander zu unterscheiden, aber sie machte nur wenige Fehler.
    Sie hatte auch viel Übung, denn da in wenigen Tagen ihr neuntes Kind geboren werden würde, hatte sie die letzten Jahre mit nur wenigen Unterbrechungen damit verbracht.
    Störend war nur, dass ihr manchmal, wenn sie sich stark auf die Arbeit konzentrierte, Dinge einfielen…
    In diesen kurzen Momenten begriff sie, was mit ihr geschehen war. Dann zogen die Namen der Psychopharmaka, mit denen Jon sie gefügig gemacht hatte, an ihrem inneren Auge vorbei. Irgendwann hatte er damit aufgehört. Sie wusste nicht warum, aber es hatte auch nichts geändert. Der Prozess, den Jon
    »Degenerierung« nannte, war bereits so weit fortgeschritten, dass sie ebenso wie Marie zufrieden mit ihrem Schicksal war und glücklich über jedes bisschen Aufmerksamkeit, das Jon ihr schenkte.
    Sie hörte Schritte vor der Tür und sah auf. Einige Männer gingen mit einer Trage, auf der eine ohnmächtige Frau lag, am Gemeinruum vorbei. Danielles Herz schlug kräftiger, als sie Jon unter ihnen sah. Er warf einen Blick in das Zimmer und lächelte sie an.
    »Wje geet es mejnen Liewlinsfruen?«, fragte er und sprach dabei so deutlich, dass Danielle ihn ohne Probleme verstehen konnte.
    »Guut«, antwortete Marie für sie. »Huns geet es guut.«
    Danielle nickte zur Bestätigung. Sie freute sich, dass Jon sich trotz der vielen Aufgaben noch Zeit für seine Frauen nahm, und es erfüllte sie mit Stolz, dass er die Gruppe auch aus ihrer letzten schweren Krise geführt hatte.
    Die hatte vor Monaten begonnen, als einige Menschen ihre Zelte in der Nähe des Atonums aufschlugen. Raoul hatte
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