015 - Die Heiler
das Haus beheizte, und eine Leiter, die in die obere Etage führte. Beherrscht wurde der Raum jedoch von einem großen Holztisch, um den mehrere Stühle gruppiert waren. Auf einem davon saß eine ältere Frau mit verbitterten Gesichtszügen. Als sie ihren Sohn eintreten sah, hellte sich ihre Miene auf.
»Ruut!«, rief sie. »Den Göttern sei Dank, du bist gesund.« Sie streckte die Arme nach ihm aus, stand aber nicht auf.
Sie ist gelähmt! erkannte Matt im gleichen Moment, als er ihre dürren, beinahe verkümmerten Beine sah.
Tschak bemerkte seinen Blick. »Meine Frau ist vor langer Zeit gestürzt«, sagte er leise. »Die Heiler konnten ihr nicht helfen.«
Matt nickte, während sich Ruut an ihm vorbei drängte, um seine Mutter zu begrüßen.
Plötzlich strauchelte er. Seine Hände griffen nach der Tischkante, fassten ins Leere. Schwer schlug Ruut zu Boden und blieb zitternd liegen.
Tschak und seine Frau schrien fast gleichzeitig auf. Der Majistee wollte sich zu seinem Sohn herab beugen, aber Matt zog ihn zurück.
»Nicht anfassen!«, befahl er scharf.
Er sah in das verängstigte Gesicht des Jungen und schluckte.
Obwohl er kein Arzt war und nie mehr als eine Erste-Hilfe-Ausbildung absolviert hatte, gab es Krankheiten, die sogar er auf einen Blick erkennen konnte.
Zum Beispiel die Beulenpest…
***
3. Mond, Jahr 12 nach Jon dem Ersten (2065)
»So hooret de Worte de Alphabetisches Nachschlagewerk der Allgemeinmedizin mit einem Vorwort von prof dr Valvekens«, sang die melodische Stimme von Meedecin Jon II.
Die vor ihm sitzenden Assistjes neigten die kahlrasierten Köpfe und nahmen die Kopien des Heiligen Buchs zur Hand. In den Taschen ihrer weißen Kittel blitzten Skalpelle silbern im Kerzenlicht.
»We hooret«, entgegneten sie gleichzeitig.
»Abdominell«, sang Jon.
»Den Unterleib betreffend«, antwortete der Gesang der Assistjes.
»Anisokorie.«
»Seitendifferente Weite der Pupillen.«
Jon öffnete das Buch an anderer Stelle und hob den Zeigefinger.
»Demonstere de Sniete bej akuter Appendezitis.«
Die Meedecins zogen die Skalpelle aus den Taschen und ließen sie durch die Luft gleiten. Minutenlang wiederholten sie die Bewegungen, bis Jon II. weitersprach.
»Guut.«
Er schlug das Buch zu und legte es zurück auf die geweihten Tücher. Noch auf dem Totenbett hatte er seinem Vater Jon versprechen müssen, den Assistjes Lesen und Schreiben beizubringen und ihnen immer wieder aus dem Heiligen Buch vorzulesen.
Jon verstand, dass es wichtig war, die Geheimnisse der Ahnen zu bewahren, aber auf die täglichen Lesungen hätte er am liebsten verzichtet. Zum einen fiel ihm das Entziffern der Buchstaben selbst nicht leicht, zum anderen konnten die Assistjes die Passagen ohnehin auswendig. Warum sollten sie sich unnötig mit geschriebenen Worten aufhalten, wenn ihr Gedächtnis auch ausreichte?
Nur sein Versprechen hielt Jon II. davon ab, die Lesungen zu beenden.
Er klatschte in die Hände. Zwei Jungen, die noch nicht das Alter des Studis erreicht hatten, liefen eilig zu einer Seitentür des Geruums und zogen eine Tragbahre herein. Darauf lag der Leichnam einer Frau seines Vaters, die erst vor kurzem in hohem Alter verstorben war.
Sie hatte nie ein Wort gesprochen, deshalb wusste niemand, wie alt sie wirklich geworden war.
Die Kinder stellten die Bahre vor dem Meedecin ab und verneigten sich tief.
Jon band sich ein Tuch vor den Mund und zog dünne blutbesudelte Handschuhe an. Das Ritual verlangte zwar saubere Kleidung, aber in letzter Zeit waren gerade die Handschuhe knapp geworden.
Die Kittel der Assistjes raschelten, als sie sich neugierig vorbeugten, um ihrem Meister bei der Arbeit zuzusehen.
»Skalpell!«, befahl er.
Ein Junge reichte es ihm. Jon sah, dass seine Hände ungewaschen waren und beschloss ihn nach dem Ritual zu züchtigen.
»Assistjes«, kündigte er an. »De Autopsie!«
***
Wie erklärt man Menschen, die noch nie in ihrem Leben von Bakterien gehört haben, was die Pest ist?
Mit der praktischen Umsetzung dieser theoretischen Frage verschwendete Matt mehr als eine Viertelstunde. In dieser Zeit erzählte er seinen zweifelnden Zuhörern von kleinen Tieren, die man mit bloßem Auge nicht sehen konnte, die aber trotzdem tödlich waren.
Er versuchte ihnen das Prinzip der Ansteckung zu erklären und wie man sie durch Hygiene vermeiden könne. Vor allem aber betonte er, wie wichtig es sei, die Kranken zu isolieren.
Einige seiner Zuhörer wandten sich kopfschüttelnd ab. Es war klar zu
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