015 - Die Heiler
blutroten Himmel. Matt blieben nur noch wenige Stunden, um Aruula zu retten - wenn es nicht bereits zu spät war.
Er schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Ein Scheitern kam nicht infrage.
***
Sommer des Jahres 2 nach Evrek
Meedecin Shrewjinn küsste das Glas, hinter dem das Heilige Buch lag, und drehte sich zu den Assistj es um, die mit geneigten Köpfen vor ihm standen.
»So hooret de Worte de Albetisch Nachwörk de Allmeinmediin met ejne Vohwört vun Pofder Valveks«, sang Shrewjinn die Worte, die jedes Ritual einleiteten.
»We hooret«, antworteten die Assistjes. Shrewjinn war erst seit zwei Wintern ihr Meedecin und war nicht älter als die meisten von ihnen. Traditionell wurde der Titel des Meedecin vom Vater auf den Sohn vererbt, aber Evrek war kinderlos gestorben. Die Dottres beriefen daraufhin eine Versammlung ein, um über die Nachfolge zu beraten.
Es kam zu einem kurzen, aber heftigen Erbfolgekrieg, bei dem zwei Dottres ums Leben kamen und vier Assistjes derart schwer verletzt wurden, dass sie ihre Studien nicht mehr ausüben konnten.
Dieser Verlust wog so schwer, dass sich die sechs übrigen Dottres zu Friedensverhandlungen in der Virro-Kugel trafen.
Drei Tage später ernannten sie Shrewjinn zu ihrem neuen Meedecin; eine Sensation, denn der gerade mal zwanzig Winter alte Mann hatte seine Prüfung zum Dottre noch nicht abgelegt.
Shrewjinn machte sich keine Illusionen über die Gründe für seine Ernennung. Man hatte ihn nicht wegen seiner Brillanz zum Meedecin gemacht, sondern wegen seiner vollkommenen Unauffälligkeit.
Kein Dottre war Shrewjinns Mentor gewesen, niemand hatte je versucht, ihn in Intrigen der verschiedenen Groops einzuweihen; er begnügte sich mit der Frau, die man für ihn erwählt hatte, und er hatte keinen einzigen körperlichen oder geistigen Defekt, der sonderlich aufgefallen wäre.
Shrewjinn war - bis auf eine angeborene Hörschwäche - einfach normal.
Es gab nur eine Sache, die er wirklich gut beherrschte und die ihn von allen anderen Assistjes und Dottres unterschied: Shrewjinn konnte lesen.
Nicht dass er sich um diese Kunst gerissen hatte, aber er hatte keine andere Wahl gehabt, als sich dem Wirrwarr aus Buchstaben und Zeichen zu stellen und sie mühsam zu erlernen.
Während die Assistjes, mit denen er gemeinsam am Unterricht teilnahm, den Worten der Dottres und des Meedecins folgten, hatte Shrewjinn in dieser Zeit nichts anderes zu tun, als die Zeichnungen Jons an der Wand zu betrachten oder die mumifizierten Leichenteile in den Regalen zu bewundern.
Da er fast taub war, verstand er nichts von dem, was im Unterricht besprochen wurde. Wer mit ihm reden wollte, stellte sich am besten dicht vor sein Gesicht und schrie ihn an.
Meistens war es in Shrewjinns Welt jedoch sehr still, denn nur wenige machten sich die Mühe, sich brüllend mit ihm zu unterhalten. Anfangs hatte der Meedecin ihn sogar vom Unterricht ausschließen wollen, da er nicht wusste, wie er dem Jungen sein Wissen vermitteln sollte. Doch dann hatte er sich an die Kopien des Heiligen Buchs erinnert und eine davon Shrewjinn geschenkt. Der Meedecin hatte ihm mit Hilfe eines schreienden Assistjes die verschiedenen Buchstaben erklärt (die meisten davon falsch, wie Shrewjinn heute wusste) und ihn sich selbst überlassen.
Als der Junge die ersten Worte begriff, eröffnete sich ihm eine neue Welt, die in der Lage war, auch ohne Stimme zu ihm zu sprechen.
Inzwischen hatte Shrewjinn die Kopien des Heiligen Buchs schon so oft gelesen, dass er ganze Kapitel auswendig zitieren konnte. Manchmal fragte er sich, ob die Ahnen die Kunst des Lesens nur für dieses eine Buch entwickelt hatten oder ob es in längst vergangenen Zeiten vielleicht sogar mehrere Bücher gegeben hatte.
Das war ein beinahe ketzerischer Gedanke, den er für sich behielt. Ebenso sagte er niemandem, was ihm nach dem Studium der Kopien aufgefallen war.
Sie wichen voneinander ab! Bei manchen unterschieden sich nur ein paar Worte, bei anderen fehlten ganze Kapitel, die überraschend in den nächsten Kopien wieder auftauchten.
Shrewjinn verbrachte jede freie Minute mit der Suche nach der Urfassung des Buchs. Er war sicher, dort auf die richtigen Diagnus zu Krankheiten zu stoßen, die sie nicht heilen konnten.
Einfacher wäre es natürlich gewesen, das Heilige Buch hinter dem Glas hervor zu nehmen und es anstelle der Kopien zu lesen, aber eine Berührung des Buchs wurde mit dem Tod bestraft.
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