016 - Herrin der Woelfe
Es zeigte einen blonden Knaben von etwa zwölf Jahren. Ihn hatte sie so deutlich im Gedächtnis, als läge er noch immer in seinem Blut vor ihr. Sie wusste nun auch, woher sie die anderen kannte: aus ihrem Traum. Alle diese Gesichter gehörten zu den verstümmelten, blutigen Leichen, die ihr in ihrem Traum erschienen.
Bleich starrte sie Woiew an. »Nicht wahr?« sagte er nicht ohne Spott, »das ist schon beeindruckend. Das sind alles Leute, die in diesem Jahr auf mysteriöse Weise verschwanden. Hier in der Stadt. Diesen älteren Herrn fand man im Fluss. Er lag dort schon eine Weile. Aber er war nicht ertrunken. Es sah vielmehr so aus, als wäre er von einem Raubtier angefallen worden.« Er sah sie scharf an. »Von einem weißen Wolf vielleicht?«
Betäubt starrte sie auf die Bilder. »Ich weiß nicht, warum Sie sich sosehr gegen das Offensichtliche sträuben. Sie sind dieser weiße Wolf, Fräulein Lemar.«
»Hören Sie auf!« schluchzte sie. »Es ist nicht wahr! Es ist einfach nicht wahr! Es ist Irrsinn!«
Der ganze Nachmittag war unreal. Immer wieder gab es Augenblicke, Sekunden, Minuten, an die sie sich nicht zu erinnern vermochte, die einfach fehlten, als hätte jemand sie mit einem großen nassen Schwamm ausgelöscht. Etwas wuchs in ihr mit jedem Pulsschlag, mit jedem Atemzug – eine Gier, vor der sie erschrak. Manchmal war ihr, als beobachteten sie Woiew und Alexis mit steigendem Interesse.
Gleichzeitig bemächtigte sich ihrer ein Gefühl der Gleichgültigkeit, das selbst die ungewöhnlichsten Dinge gewöhnlich erscheinen ließ. Dumpf erkannte sie, dass sie mit jeder Faser ihres Körpers wartete. Auf das Aufgehen des Vollmondes. Und auf …
Es entschlüpfte ihren Gedanken, sobald sie sich darauf konzentrierte.
Cuon streunte mit den anderen Wölfen durch das Gelände, aber er kam immer wieder für kurze Augenblicke zurück, als wollte er sich vergewissern, dass nichts mit ihr geschehen war.
Sie verließ kaum ihr Zimmer. Sie verbrachte den Nachmittag wie in einem Traum.
Um halb sieben kam Woiew zu ihr aufs Zimmer.
Nachdrücklich erklärte er: »In wenigen Minuten wird der Vollmond aufgehen. Haben Sie keine Furcht! In dieser Nacht sind Sie eine von uns.«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Thania.
»Kommen Sie!« sagte er einladend.
Sie schritten zusammen in den Hof.
»Wo ist Alexis?« fragte sie.
»In Sicherheit«, erwiderte er.
Sie verstand nicht, was er damit sagen wollte, aber das war nicht wichtig. Das blutige Abendrot ließ ihren Puls schneller schlagen. Die Wölfe kamen zurück, Cuon an der Spitze.
Sie scharten sich um die beiden. Ihr ganzes Wesen drückte Erwartung aus. Woiew führte sie ins Futtergehege, dann wandte er sich an Thania. »Bei Ihnen möchte ich sichergehen und keinen Fehler machen.«
Er öffnete die Tür eines der kleinen Gehege und schubste sie hinein. Bevor sie protestieren konnte, hatte er die Tür verriegelt.
Einen Augenblick wurde die Gleichgültigkeit durch Angst verdrängt.
»Was haben Sie vor?« rief sie.
»Wie ich schon sagte: Haben Sie keine Angst! Es ist nur zu Ihrem Schutz – für den Fall, dass ich mich doch getäuscht haben sollte. Vor allem aber möchte ich, dass Sie sich an alles erinnern, was heute geschieht. Sehen Sie genau zu!«
Er verschwand mit leisem Lachen.
Unsicher beobachtete sie die Wölfe und Cuon, der sie mit starrem Blick musterte, und langsam kehrte das Gefühl der Gleichgültigkeit zurück. Es war jetzt noch stärker als zuvor.
Sie sah den ersten Schimmer des Mondes über dem Wald und spürte, wie langsam alles kalt wurde in ihr. Da war etwas, das ihre Eingeweide zusammenkrampfte. Ein seltsamer Hunger, der aus der Kälte ihrer Seele kroch.
Woiew erschien wieder. Im Dämmerlicht erkannte sie undeutlich, dass er etwas trug – etwas Lebendiges, das zappelte und sich heftig wehrte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Wölfe ans Gitter sprangen und Woiew mit keuchenden Mäulern entgegenblickten.
Eine erstickte menschliche Stimme drang an ihr Ohr. Dann hörte sie Woiew fluchen und das Bündel zu Boden werfen. Er zog es hinter sich her direkt vor ihr Gehege.
Mit brennenden Augen starrte das Mädchen auf die sich windende, gefesselte und geknebelte Gestalt einer Frau, die sich vergeblich zu schreien bemühte. Woiew zerrte sie an den Haaren hoch und drückte sie an das Gitter. Mit der anderen Hand riss er ihr Kleid auf und strich über den straff gestreckten Hals der Gefangenen. Als sie sich wieder zu wehren begann, verstärkte er
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