0165 - Bis zum letzten Atemzug
und nach schälte Wagner mit kräftigen Schlägen einen Kistendeckel frei, der etwa vier Fuß lang und drei breit war. Um die Kiste herausheben zu können, hätten wir rings um sie noch einen breiten Streifen ausschlagen müssen. Um die Zeit zu sparen, beschlossen wir, den Deckel mit der Brechstange aufzuwuchten.
»Mich wundert’s«, sagte einer der Kollegen, »dass es niemand im Haus hört?«
»Keine Gefahr«, lachte Wagner leise. »Der Kranke im ersten Stock ist so gut wie taub. Und die alte Köchin schläft noch eine Etage höher, und um ihr Gehör ist es auch nicht gut bestellt. Die Pflegerin ist ja nicht mehr da…«
Wir hatten das erste Brett ein Stück abgehoben, als uns eine Wolke von süßlichem Verwesungsduft entgegenflog. Erschrocken hielten die beiden Kollegen mit ihren Brechstangen inne.
Wagner fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Wir alle waren angespannt.
»Weiter!«, sagte Wagner nach einer kurzen Pause. Seine Stimme klang belegt.
Noch einmal wuchteten sie kräftig mit ihren schweren Eisenstangen, dann flog der Deckel krachend in die Höhe.
Wir waren alle miteinander einiges gewöhnt. Aber bei diesem Anblick musste sich dem Abgebrühtesten der Magen umdrehen. In der Kiste lag die Leiche eines Mannes, der mindestens schon seit einem halben Jahr tot war.
***
Eine halbe Stunde später standen wir auf dem Rasen hinter dem Haus. Einer der Kollegen war zum Wagen gegangen, um die Mordkommission anzurufen. Diesmal aber die Mordkommission des FBI.
Wir hatten uns alle Zigaretten angesteckt und rauchten hastig. Jeder gab sich krampfhaft Mühe, den intensiven Verwesungsgeruch loszuwerden, aber es schien, als hätte er sich in den Kleidern festgesetzt.
»Hören Sie«, sagte ich nach einer Weile leise zu Wagner, »Sie sind doch nicht ohne irgendeinen Grund auf den Gedanken gekommen, diese Durchsuchung vorzunehmen?«
»No«, gab er zu. »Ich hatte einen Grund. Sie erinnern sich der Frau, die wir gleich hier im Haus vernahmen, damit sie bei dem Kranken bleiben konnte?«
»Die Frau, die vor ungefähr zwölf Stunden tot aus einer Mülltonne in der Cattle Street gezogen wurde, nicht wahr?«
»Ja, natürlich. Nun, wir haben dafür gesorgt, dass wir von der Kriminalabteilung der Stadtpolizei über einige Dinge unterrichtet wurden. Man nahm der Toten die Fingerabdrücke ab. Eine Stunde später wusste man durch die Prints, dass sie in Wahrheit Hazel Rochester hieß, wie sie sich sonst auch immer nennen mochte.«
»Bedeutet das etwas? Mir sagt dieser Name gar nichts.«
»Na ja, Sie kommen aus New York. Sie kennen die Verhältnisse hier nicht. Hazel Rochesters Name hat in Chicago fast einen solchen Klang wie in New York der Name Pinkerton. Sie leitet eine Privatdetektei. Aus irgendeinem Grund bleibt sie nicht hinter ihrem Schreibtisch sitzen, sondern steckt ihre Nase immer wieder in die dicksten Fälle hinein. Sie hat schon bei der Aufklärung mehrerer schwerer Verbrechen mitgewirkt und dabei durchaus positive Arbeit geleistet. Ich selbst hatte sie leider noch nicht kennengelernt, sonst hätte ich ja gestern Abend schon gewusst, wen ich vor mir hatte. Leider! Vielleicht hätte ich ihr dieses Ende ersparen können.«
»Halten wir mal fest, dass die Dame also eine bekannte Detektivin war«, sagte ich nachdenklich. »Wieso ist das ein Grund für Sie, hier eine Durchsuchung vorzunehmen?«
»Ganz einfach, mein Lieber: Wenn Hazel Rochester den Schreibtisch in ihrem Büro verlässt, dann nur, wenn sie einer dicken Sache auf der Spur ist. Irgendwie muss sich diese dicke Sache doch hier im Haus abgespielt haben, sonst hätte sie nicht hier die Pflegerin gespielt. Klar?«
»Sicher«, brummte Phil, der interessiert zugehört hatte. »Sie war den Schmuckdieben auf der Spur. Das erklärt doch alles.«
»Haha«, feixte Wagner meckernd. »Als sie den Job als Pflegerin hier annahm, waren die Juwelen, die Ringe und Ketten noch gar nicht gestohlen.«
Ich stieß einen leisen Pfiff aus.
»Das ist allerdings merkwürdig«, gab ich zu. »Jetzt verstehe ich diese Durchsuchung. Zumindest gibt Ihnen ja der unerwartete grausige Erfolg recht. Wer kann der Tote sein? Es muss ein ziemlich alter Mann gewesen sein, dem weißen Kopfhaar nach zu urteilen.«
Wagner öffnete den Mund, als ob er etwas sagen wollte, aber er starrte mich nur durchdringend an. Erst nach einer ganzen Weile stöhnte er: »Mann, Cotton! Wenn das wahr ist, was mir da durch den Kopf geht, dann sind wir der größten Schweinerei der letzten
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