017 - Blick in die Vergangenheit
entdeckte Matt auch die aus anderen Ruinenstädten schon vertrauten Gestrüpphaufen. Er machte sich nicht die Mühe, die Pflanzendecke zur Seite zu biegen - er wusste ja, was er darunter entdecken würde: vom Rost zerfressene Autowracks.
Ihre Zahl nahm zu, je tiefer sie in die Ruinen eindrangen. Die Konturen der Straßenzüge wurden deutlicher, an manchen Stellen sah man löchrigen, von tausend Furchen durchzogenen Asphalt; schwarzer Stein oder rostiges Metall gähnten durch Lücken in der Efeudecke über den Fassaden links und rechts. Vor allem Birken wuchsen hier, aber auch Ahorn und Haselnuss. Und jede Menge Farn und buschige Stauden, die Matt an Brennnesseln erinnerten. Schilder und Ampelpfeiler tauchten auf.
Kletterpflanzen rankten an ihnen empor. Ein einsamer Laternenmast bog sich über die ehemalige Straße. Ein Blätterknäuel mit großen weißen Blüten hing von seiner Spitze herab. Eine mutierte Windenart, vermutete Matt. Wie schon so oft in den vergangenen Monaten erschütterte ihn der Eindruck einer gestorbenen Stadt - und faszinierte ihn zugleich: ein Zeugnis des langen Atems der Natur. Und der Über- flüssigkeit des Menschen. Vermutlich würde es in New York, Moskau und Sidney nicht wesentlich anders aussehen. Nirgends würde es anders aussehen. Nirgends, wo aufrecht gehende Primaten mit knapp fünfzehnhundert Gramm Hirn unter der Schädeldecke sich einst für die Krone der Schöpfung hielten. Es war zum Heulen und zum Lachen zugleich.
Dann das Stahlskelett eines Hochhauses, auf den grün verkleideten Stahlträgern verkrüppelte Sträucher, die Matt nicht identifizieren konnte. Im Inneren des Skeletts ein einzelner Laubbaum, eine Platane. Wie selbstverständlich breitete sie ihre mächtige Krone in dem Raum aus, den vor Jahrhunderten emsige Sachbearbeiter, Bankangestellte oder Finanzbeamte mit Tastaturgeklapper, Kaffeeduft und Telefongeschnatter gefüllt hatten.
Aus Matts Perspektive war das gerade mal acht Monate her…
Es wurde Mittag. Tiefer und tiefer drangen sie in die verlassene Geisterstadt vor. Der Dunst über den Ruinen verdichtete sich. Es roch nach Wasser. Mehr und mehr fast unversehrte Häuser tauchten auf. Hohe Steinkästen, von der Natur zurückerobert. Vor einem quadratischen Pflanzenturm blieb Matt stehen. Das Hochhaus überragte die Platanen, die es flankierten, um gut zwanzig Meter.
»Wo wohnen deine Leute, Lu?«, wollte Matt wissen.
Die Frau zeigte nach Nordwesten. »Zwa Sippen in Sonnenuntegang.« Sie deutete nach Südosten. »Zwa in Sonneaufgang. Alle aufanere Seite vonne Tamms.«
»Tamms« nannten sie also die ehrwürdige Themse. Matt nickte langsam. »Und deine Sippe?«
»Gwandlowd Paacival gehöat Landän- Tschelsi unde Walde aus dennewi komme. Gwanload Paacival isse mächdigste Gwanload von Landän.«
»So, so.« Matt blickte zur Spitze der pflanzenumrankten Hochhausruine hinauf. »Ich will da hoch. Ich möchte mir aus der Vogelperspektive anschauen, was von London übrig geblieben ist.«
Mit der Axt hieb er sich eine Schneise ins Efeugestrüpp. Nacheinander kletterten sie in die Ruine. Sie gelangten in einen großen Raum. Im Halbdunkel erkannte Matt Überreste von Tischen und Sesselskelette. Reste von Bürosesseln, vermutete er, denn auf den moosüberwucherten Tischen standen rechteckige, schmalkantige Kästen, ebenfalls von Moos überzogen. Matt identifizierte sie unschwer als Flatscreens.
Sie betraten eine Zimmerflucht. Dicke Spinnennetze überall, Staub, knöchel hoher Dreck - große Käfer schossen in alle Richtungen davon. Die Pflanzendecke an der Fassade der Ruine ließ hier unten im Erdgeschoss kaum Licht ins Gebäude. Trotzdem fanden sie den Zugang ins Treppenhaus.
Moos und niedriges Gestrüpp bedeckten die Stufen und das Geländer. Je höher sie stiegen, desto heller wurde es.
Matt zählte die Stockwerke. Durch einen glaslosen Türrahmen betraten sie im zwanzigsten wieder ein Zimmerflucht und dann einen der Räume, die an der Nordseite des Hauses lagen. Wieder ein ehemaliger Büroraum. Nicht so groß wie der im Erdgeschoss. Und nur ein Schreibtisch.
Vermutlich die Chefetage.
Gemeinsam hieben sie eine Bresche in die Außenranken - Aruula mit dem Schwert, Matt mit Simplord Bäikas Beil. Lu zog die abgeschlagenen Zweige in den Raum hinein. Der kleine Ausschnitt des dunstig-grauen Himmels vergrößerte sich langsam. Lautes Krächzen drang aus dem Gestrüpp. Dann Flügelschlagen - die Silhouette eines großen blauschwarzen Vogels erschien für einen Moment
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