017 - Der Engel des Schreckens
Irrenanstalt lag in der Nähe von Dulwich, und Mr. Rennett war begreiflicherweise beunruhigt.
»Die Frauen zu Hause sind in Todesangst«, sagte er. »Abends gehen sie nicht mehr aus, und alle Türen sind verschlossen und verriegelt. Wie ist denn Ihre Besprechung mit dem Polizeichef verlaufen?«
»Wir trennten uns als die schlechtesten aller Freunde«, antwortete Jack, »und der nächste Mensch, der mir noch einmal von Jean Briggerlands schönem Gesicht vorschwärmt, hat sein Leben verwirkt, selbst wenn ich nach berühmtem Muster den gräßlichen Jaggs damit beauftragen muß.«
Kapitel 14
An diesem Abend erschien der ›gräßliche Jaggs‹ später als gewöhnlich. Lydia hörte ihn den Gang entlangschlurfen; dann schloß sich seine Tür mit einem scharfen Schnappen. Sie saß vor dem Klavier, hatte aber ihr Spiel unterbrochen, als sie ein Klopfen hörte. Mrs. Morgan kam herein, und Lydia drehte sich auf dem Klaviersessel herum. Ein fester Entschluß lag auf ihrem feinen Gesicht.
»Jaggs ist gekommen, Miss.«
»Und zum letztenmal«, sagte Lydia nachdrücklich. »Mrs. Morgan, ich kann den unheimlichen alten Mann nicht mehr aushaken. Er fällt mir so auf die Nerven, daß ich schon bei dem Gedanken an ihn schreien möchte.«
»Er ist doch ein ganz netter alter Mensch«, verteidigte ihn Mrs. Morgan.
»Über seine moralischen Eigenschaften mache ich mir auch keine Sorgen; die sind einwandfrei, davon bin ich überzeugt«, sagte Lydia bestimmt, »aber ich habe ein paar Zeilen an Mr. Glover geschrieben, daß ich auf Mr. Jaggs Dienste verzichten muß.«
»Warum kommt er denn eigentlich jeden Abend?« fragte Mrs. Morgan. Neugierig war sie schon seit geraumer Zeit, aber es war das erstemal, daß sie davon sprach.
»Er kommt hierher, weil -« Lydia suchte nach Worten -»weil Mr. Glover der Meinung ist, ich müßte einen Mann als Schutz für mich in der Wohnung haben.«
»Ja, warum denn nur?« fragte Mrs. Morgan überrascht.
»Danach fragen Sie besser Mr. Glover«, versetzte Lydia gereizt.
Dieser ständige Zwang bedrückte sie. Sie kam sich wie ein Schulmädchen vor, das den bevormundenden Schutz des älteren Bruders oder der Erzieherin verabscheut. Der alte Jaggs war das äußere Zeichen von Mr. Jack Glovers selbstgeschaffener Autorität, und langsam wuchs der Verdacht in ihr, daß Jean Briggerland doch nicht so ganz unrecht hatte, wenn sie von Jacks Vorliebe, andere Leute ›herumzukommandieren‹, sprach.
Der Horizont ihres Lebens war weiter gerückt. Sie hatte die Gitter niedergerissen, die sie zu dem eintönigen Spaziergange zwischen Büro und Wohnung gezwungen hatten. Die Stunden, die sonst eifriger Arbeit gewidmet waren, standen frei zu ihrer Verfügung; sie konnte jetzt zeichnen oder malen, wann sie Lust dazu verspürte - was übrigens nicht oft der Fall war, obgleich sie sich fest vorgenommen hatte, sich ernsthaft mit dem Studium der Kunst zu beschäftigen.
Ihr Standpunkt dem gutaussehenden jungen Anwalt gegenüber hatte sich geändert. Sie wußte selbst nicht recht, in welchem Lichte sie ihn betrachten sollte. Er ärgerte sie, und doch gefiel er ihr wieder - warum, konnte sie sich selbst nicht erklären. Und seine Aufrichtigkeit? Die bezweifelte sie nicht einen Augenblick, ja sie mußte sich sogar eingestehen, daß sie wünschte, er besuchte sie etwas häufiger. Er hätte ihr zureden, beweisen sollen, daß Jaggs ein notwendiges Übel war, aber nahm sich ja nicht einmal diese Mühe. Und darum - doch das gestand sie sich nicht ein - mußte Jaggs gehen.
»Ich glaube, der alte Mann ist manchmal nicht ganz richtig im Kopf«, sagte Mrs. Morgan.
»Wieso?« fragte das junge Mädchen verwundert.
»Wenn ich an seiner Tür vorbeikomme, höre ich ihn oft mit sich selbst reden. Er bleibt doch die ganze Nacht in seinem Zimmer, Miss?«
»Das tut er eben nicht«, rief Lydia, »und darum muß er weg. Heute morgen habe ich ihn um zwei Uhr im Korridor gehört. Ich bin schon so nervös geworden, daß das leiseste Geräusch mich aufweckt. Er hatte die Schuhe ausgezogen und schlich in Strümpfen herum. Als ich hinausblickte und das Licht einschaltete, verschwand er mit einem Satz in seinem Zimmer. Ich kann das nicht mehr ertragen, und ich will es auch nicht mehr! Das alles ist mir zu unheimlich.«
Mrs. Morgan stimmte ihr bei.
Als Lydia sich auskleidete, dachte sie daran, daß sie schon drei oder vier Abende nicht mehr ausgegangen war. Das Wetter war sehr unbehaglich, und der Aufenthalt in ihrer hübschen, gemütlichen
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