0170 - Die Ratte von Harlem
Rogers.
Es war am späten Nachmittag. Im Office lag eine glühende Hitze. Der längst reparierte Ventilator schnarrte fürchterlich, und jeder Luftzug, den er herunterschickte, fuhr mir wie eine glühende Nadel in den schweißnassen Nacken.
Melwyn Rogers — da stand es, fünfunddreißig Jahre alt, von Beruf Fliesenleger, arbeite seit mehreren Jahren ununterbrochen bei derselben Firma. Bei Colman und Co.
Colman und Co.
Phil suchte die Nummer heraus und rief an.
»Könnte ich wohl einen Augenblick Mr. Melwyn Rogers sprechen?«
Ich sah, daß Phils Gesicht lang wurde.
»Was —?« fragte er. »Seit wann? — Danke!« Er legte auf.
Ich sprang hoch. »Was ist los?«
»Nichts. Oder fast nichts. Er ist nicht da.«
»Er wird auf einem Bau arbeiten…« meinte ich.
»Nein. Er ist heute morgen nicht zur Arbeit gekommen.«
»Na und? Er kann ja krank sein, oder er hat den Bus verpaßt. Da gibts doch tausend Möglichkeiten.«
Phil schüttelte den Kopf. »Eben nicht. Er ist seit sieben Jahren bei der Firma. Und er kommt jeden Morgen um acht zur Arbeit. Jetzt ist es halb fünf am Nachmittag.«
»Was soll das besagen?«
»Der Boß hatte einen Lehrling zu ihm nach Hause geschickt, weil er Melwyn schätzt und weil der Mann doch allein lebte…«
»Und?«
»Er war nicht da.«
Ich blickte auf die Unterlagen. Melwyn Rogers wohnte direkt am Wasser.
Wir fuhren sofort los. Seine Wohnung lag zu ebener Erde in einem Anbau. Phil blieb im Hof neben mir stehen und starrte finster auf die vergitterten Fenster.
Auch mich hatte eine dunkle Ahnung gepackt.
Aber schließlich — vergitterte Fenster gab’s überall. Und vor allem in den alten Häusern an den Wohnungen, die zu ebener Erde liegen.
Die Tür war verschlossen.
»Aufmachen, Polizei!«
Nichts.
Wir holten einen Cop von der Straße. Dann brach Phil die Tür auf.
Nach einem schnellen Blick in das kleine Zimmer atmeten wir beide auf. Der Raum war leer.
»Ich sehe schon Gespenster«, meinte Phil, als wir wieder im Wagen saßen. »Ich sah den Mann bereits irgendwo am Boden liegen, mit glasigem Blick und Würgmalen am Hals.«
Ich gestand mir ein, daß ich eine ähnliche Befürchtung gehabt hatte.
Wo war Melwyn Rogers?
Wir waren kaum wieder im Districtsbüro, als der Chef anrief. »Jerry, da hat die. Firma Colman angerufen. Ein Kollege von diesem Rogers hat den Mann gestern abend im Roxy-Kino gesehen.«
»Danke, Chef!«
Wir hetzten wieder los. Zu Colman und Co. Rogers Kollege war ein dicker, feister Mann, auch ein Fliesenleger. Er hieß Freddy Gold und reichte uns treuherzig seine schwielige Pfote.
»Tja, ich hab’ zufällig gesehen, wie er ’reinging. Ich kam mit meiner Frau vorbei.«
»Kennt Ihre Frau ihn auch?«
»Ja, er war ein paarmal bei uns zum Geburtstag und so. Wir haben nämlich nichts gegen Schwarze…«
»Schon gut. War er allein?«
Der Dicke kratzte sich den Kopf. »Das weiß ich nicht, Mister. Aber Mel war immer allein. Er hatte mal eine Freundin, aber die ist gestorben, vor Jahren, im Winter, an einer Grippe. Seitdem hat er nie wieder eine feste Freundin gehabt.«
»Und ob sonst jemand bei ihm war, vielleicht ein Mann, wissen Sie nicht?«
Er schüttelte den Kopf.
***
Mr. High befahl großen Einsatz. Melwyn Rogers wurde offen gesucht. Es war eine umfassende polizeiliche Suchaktion. Nadh Tagen mußten wir sie erfolglos abbrechen.
Melwyn Rogers blieb verschwunden. Ob sein Verschwinden etwas mit den Morden in Harlem zu tun hatte, konnte niemand sagen. In New York verschwinden viele Menschen, oft täglich — aber merkwürdig blieb die Sache mit Rogers doch…
Die Tage krochen dahin. Und schon begann die Zeit, die ja bekanntlich alles zudeckt, auch die Taten der Ratte von Harlem zuzuschütten.
Obgleich seit dem aufsehenerregenden Mord an Marva Gladstone kaum zwei Wochen vergangen waren. Das ist für die sensationsgierige und auf immer Neues erpichte Riesenstadt Zeit genug, solche Dinge zu vergessen. So schrecklich es auch gewesen sein mochte, so grauenhaft und brutal — es wurde von anderen, neuen Sensationen überschattet.
Es gab wahrscheinlich überhaupt nur zwei Männer, die die Jagd nach der Ratte nie auf zugeben gewillt waren: Phil Decker und ich.
Aber vielleicht würde das gespenstige Scheusal noch heute sein Unwesen in den Kellerlöchern des gewaltigen Steinmeers treiben, wenn nicht Doktor Howard Lincoln, mein neuer Freund, ein so waches- Ohr gehabt hätte…
Es war Anfang August. Starke Regengüsse hüllten die Stadt seit Tagen in
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