018 - Der Mönch mit den Teufelskrallen
sich langsam eine
fürchterliche Hand über die Felswand – eine Klaue mit langen Krallen. Der
Handrücken schimmerte grünlich. Deutlich hoben sich die großen Schuppen ab, die
an die Haut eines vorsintflutlichen Ungeheuers erinnerten.
Es war die
Hand des Mannes, der die Kutte des toten Bruder
Antonio trug.
●
Die Mädchen
erhoben sich. Sie trugen einheitlich blaue Röcke und weiße Blusen.
Der Mönch, der
mit herabgelassener Kapuze vor den Stuhlreihen stand, nickte ihnen aufmunternd
zu, während er nach dem aufgeschlagenen Buch griff, das auf dem quadratischen
Tisch neben ihm lag.
»Ich bedanke
mich für Ihre Aufmerksamkeit, meine Damen«, sagte Bruder Santos mit ruhiger
Stimme und lächelte mild. »Ich freue mich, dass Sie auch heute wieder zugehört
haben, um etwas über die Geschichte und die Legende dieses alten Klosters zu
erfahren. Guten Abend, meine Damen!«
Er nickte
allen zu und ging davon.
Die
Heimleiterin, die an der Unterrichtsstunde teilgenommen hatte, erhob sich
ebenfalls von ihrem Platz. Ihr Blick schweifte über die Mädchen, die ihre
Stühle ordentlich in Reih und Glied stellten. Einige Zöglinge verließen das
kleine Zimmer, um noch ein wenig zu lesen oder den Gang in die Kapelle
anzutreten. Es war nicht Pflicht, an der Andachtsstunde teilzunehmen, dennoch
wurde es gern gesehen, wenn möglichst jede erschien.
Auch Marina
stand auf. Sie war sehr blass.
Nicht eine
Sekunde hatte die Leiterin sie aus den Augen gelassen.
»Nun, Marina,
haben Sie es sich überlegt? Ich habe Ihnen den ganzen Tag Zeit gelassen!«
»Ich habe
nichts zu sagen«, antwortete die Angesprochene, doch sie wagte es nicht,
einfach ihren Platz zu verlassen und den anderen nachzugehen.
»Sie sind sich
des Ernstes der Lage nicht bewusst«, stieß die Señora hervor, wandte sich
abrupt ab und ließ ihr Bambusrohr durch die Luft zischen. »Ich habe – bis zu
diesem Augenblick – noch Gnade vor Recht ergehen lassen und Ihnen eine Chance
gegeben, Marina. Sie haben diese nicht genutzt. – Sie sind mir also keine
Erklärung schuldig?«, bohrte sie noch einmal nach.
»Nein.«
»Wie Sie
wollen!« Dabei peitschte sie das Stöckchen zweimal durch die Luft. Marina hielt
den Atem an, denn im selben Augenblick trat Don Juan ein – mit sturem
Gesichtsausdruck und einem blöden Grinsen.
Señora
Couchez' Augen funkelten, als würden lauter kleine Lichter darin tanzen. »Er
hat Sie letzte Nacht unten in den Vorratsräumen erwischt. Außerdem ist Fernanda
verschwunden. Vielleicht wollte sie Sie überreden, mitzukommen, Marina. Fehlte
Ihnen der Mut? Nun, Sie hatten Zeit nachzudenken, und ich hoffte, Sie würden
doch noch vernünftig werden und reden. In der Dunkelheit werden Sie über Ihre
Starrköpfigkeit nachdenken können. Ebenso, dass vielleicht das Leben Ihrer
Freundin von Ihnen abhängt!« Sie wandte sich ab und ging zur Tür. Dort drehte
sie sich noch einmal kurz um. »Gehen Sie zu Ihrem Spind und besorgen Sie sich
etwas Warmes zum Anziehen. Sie werden es in der dunklen und kalten Zelle
brauchen. Er wird Sie begleiten«, und sie zeigte auf Don Juan.
Der folgte ihr
wie ein Schatten – bewegte seinen schweren Körper mit erstaunlicher
Leichtigkeit. Auch Marina ging. Sie verließ den Unterrichtsraum durch einen
Seitenausgang.
»Psst,
Marina!«, hörte sie da die leise Stimme hinter sich. Sie wirbelte herum. Eines
der Mädchen trat auf sie zu.
»Carmen, was
suchst du denn noch hier?«
»Ich habe mich
versteckt. Die Couchez glaubte offensichtlich, ich wäre mit den anderen
hinausgegangen. Ich habe alles gehört und auch bemerkt, dass sie dich wie einen
Augapfel hütet. Wenn sie dich jetzt in die Dunkelzelle werfen, dann halte
durch. Verrate Fernanda auf keinen Fall. Ich werde mich um dich kümmern,
Marina. Wir bringen dir was Anständiges zu essen, sobald die Couchez heute
Abend ihren letzten Kontrollgang hinter sich hat.«
»Danke,
Carmen.« Ein flüchtiges Lächeln erhellte Marinas verhärmte Züge. Sie ging zum
Schlafsaal, während Carmen durch den anderen Ausgang huschte.
Aus den
Küchenräumen, wo noch einige Mädchen mit dem Abwasch beschäftigt waren, hörte
sie das Klappern von Geschirr.
Aus ihrem
Spind im Schlafraum holte sie die notwendigsten Kleidungsstücke, einen warmen
Pullover und Wollstrümpfe. Zehn Meter vor ihr stand Don Juan. Sein Blick schien
sie nicht zu erfassen. Er schlich näher, vor der halb geöffneten Tür strich er
auf und ab, aber er trat nicht ein.
Als sie den
Raum verließ, war
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